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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nachdenklich ins Innere des Gasthofs. Ich hatte den leeren Schankraum noch nicht zur Hälfte durchquert, als mir einfiel, daß Anna erwähnt hatte, Wesener und Limberg kämen jeden Nachmittag zu ihr.
    Nach einer Begegnung mit diesen beiden aber stand mir nun wirklich nicht der Sinn, und Anna mußte das wissen. Eilig lief ich zurück zur Tür, um den Abbé zu fragen, ob sie vielleicht noch etwas anderes gesagt hatte.
    Der alte Mann überquerte gerade den Marktplatz und hatte mir den Rücken zugewandt. Zwei Männer gingen an seiner Seite: Limberg und Wesener. Keiner der drei sprach ein Wort.
    Gerade wollte ich mich zurückziehen, als Limberg über die Schulter schaute und mich entdeckte. Sekundenlang kreuzten sich unsere Blicke. Dann wandte er sich ruckartig um und folgte den beiden anderen in eine Gassenmündung.
    Als ich wenig später in mein Zimmer kam und zum Fenster hinaus auf den Marktplatz blickte, sah ich, daß die drei immer noch am Beginn der Gasse standen, schweigend, ausdruckslos und wieder zurück zum Markt gewandt. Der Abbé stand still in ihrer Mitte, krumm auf seinen Stock gestützt. Ihre Blicke tasteten über die Fassade des Gasthofs, geduldig und suchend, von Fenster zu Fenster.
    Ich trat zur Seite, bevor sie mich entdecken konnten.

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    11
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    Gertrud war noch abweisender als bei meinem ersten Besuch mit Wesener. Vielleicht war sie enttäuscht, daß ich keine Blumen mitbrachte. Sie verschwand, kaum daß sie mich eingelassen hatte.
    Allein stieg ich die Wendeltreppe zu Annas Zimmer hinauf.
    Sie mußte meine Schritte auf den Stufen gehört haben, denn noch bevor ich anklopfen konnte, bat sie mich herein.
    Ihr Bett stand wieder unter dem Fenster, die Kleidertruhe an ihrem alten Platz an der Wand.
    »Wer…«
    »Wesener hat darauf bestanden«, sagte sie. »Er meint, das Tageslicht täte mir gut.«
    »Aber an der anderen Wand ist es genauso hell«, widersprach ich erbost. »Dorthin scheint sogar die Sonne!«
    Sie verzog traurig das Gesicht. »Er sagt, die
    Sonneneinstrahlung sei schädlich für mich. Licht, ja – Sonne, nein!«
    »Reine Schikane!«
    »Ach, Sie!« rief sie aus und lachte plötzlich. »Überall sehen Sie Schurken.«
    Ich unterdrückte meine Wut auf den Doktor, und obgleich ich sicher war, daß in Wahrheit Pater Limberg dahintersteckte, verlor ich kein weiteres Wort über die Angelegenheit.
    »Haben Sie letzte Nacht gut geschlafen?« fragte ich.
    »Das klingt, als hätten Sie es nicht getan.«
    »Ich habe geträumt. Nichts Besonderes.«
    »Sind Sie da ganz sicher?« Sie schaute mich eindringlich an, und plötzlich schämte ich mich der Erinnerung an meinen Traum. Ich wechselte schnell das Thema.
    »Wo sind Pater Limberg und der Doktor?« fragte ich.
    »Sagten Sie nicht, sie kämen jeden Nachmittag hierher?«
    Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »Ich habe ihnen gesagt, daß ich heute keine Zeit für sie habe.«
    »Oh«, entfuhr es mir erstaunt, »das erklärt allerdings einiges.«
    »Wie meinen Sie das?«
    In wenigen Sätzen erzählte ich ihr vom Besuch des Abbé, von unserer angenehmen Unterhaltung, aber auch davon, daß ich Wesener und den Pater mit ihm gesehen hatte. »Limberg war nicht allzugut auf mich zu sprechen, fürchte ich.«
    »Es war das allererste Mal, daß ich ihn gebeten habe, nicht zu kommen.«
    »Das muß für den Guten ein arger Schlag gewesen sein.«
    Sie kicherte wie ein junges Mädchen. »Er wird darüber hinwegkommen.«
    »Es freut mich jedenfalls, daß Sie mich wiedersehen wollten.«
    Ein wenig verlegen blickte sie zum Fenster. »Ich soll sie übrigens von Ihrer Prinzessin grüßen.«
    Die beiden Vögel waren nirgends zu sehen. »Ihr scheint nicht ganz soviel an einem Wiedersehen zu liegen.«
    »Sie läßt sich entschuldigen. Sie hat Sie wohl für Pater Limberg gehalten.«
    »Haben Sie einen Namen für sie gefunden?«
    »Sie ist sehr wählerisch. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie einen meiner Vorschläge akzeptiert.«
    »Kommen die Vögel wirklich jeden Tag zu Ihnen?«
    »Wenn ich es Ihnen doch sage! Jeden Morgen, Tag für Tag.
    Ich habe Tiere schon als Kind geliebt, ebenso wie sie mich.
    Als ich klein war, bin ich nachts oft aus dem Haus geschlichen, um im Freien, oben auf einem Hügel, zu beten. Damals glaubte ich, das sei nötig, um Gott ein wenig näher zu sein als in meiner kleinen Stube.« Sie lächelte. »Kinder haben sonderbare Gedanken, nicht wahr? Auf jeden Fall kamen manchmal Hasen und Füchse zu mir aufs Feld, sie saßen einfach da und

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