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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Langsam, noch zögernd, streckte ich meine Hand nach ihr aus, obwohl uns noch mehrere Schritte trennten. Meine Finger fuhren durch den Sturm, Blätter streiften meine Haut, kitzelten, reizten, neckten sie. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, ein Kribbeln tanzte über die Oberflächen meiner Glieder. Mir war mit einemmal schwindelig. Bald würde ich nach ihr greifen können, sie an der Schulter fassen, oder, besser noch, ihr Haar berühren. Meine Fingerspitzen näherten sich ihr stetig mit jedem Schritt, zitternd. Noch bevor ich endlich nach ihr tasten konnte, war es, als stieße meine Hand durch die Oberfläche einer heißen Quelle, nicht schmerzhaft, nur ungemein warm und wohlig; es fühlte sich an, als perlten winzige Luftbläschen an meiner Haut auf und ab.
    Nur ein Schritt noch, dann war ich nahe genug. Sanft streichelte ich über den langen Schleier ihrer Haare. Sie schmiegten sich an meine Finger, dann an die Handfläche, als wollten sie sich mir entgegenwellen, begierig nach der Berührung, nach dem Betastet-, dem Erkundetwerden. Der Saum des schwarzen Überwurfs streifte meine Beine, schien sie zu umschlingen, sie festzuhalten.
    Ein zarter Geruch strömte mir entgegen, sehr körperlich, sehr anregend. Noch immer sah ich kein Ge sicht. Unmerklich legte sie den Kopf ein wenig zurück in den Nacken, eine Einladung, weiter durch ihr Haar zu streichen, die langen, braunen Bahnen zu liebkosen. Ich hob eine breite Strähne empor, führte sie an die Lippen, küßte sie. Der Geruch wurde stärker, um schmeichelte meine Sinne. Ich fuhr mit beiden Händen in ihr Haar, schöpfte daraus wie aus einem heißen Strom, berührte damit meine Wangen, so weich, daß ich es kaum spürte. Allein das Wissen um ihre Nähe brachte mich fast um den Verstand.
    Die Blätter tobten in rasenden Kreisen um uns her, als stünden wir im Herzen eines Wirbelsturms. Und doch war immer noch alles, was ich hörte, das Weinen des kleinen Mädchens. Ich hörte keinen Atem, nicht den der Unbekannten, nicht meinen eigenen, auch nicht das rasende Hämmern meines Herzens. Nur das leise, verzweifelte Klagen eines Kindes.
    Zaghaft wanderten meine Hände vom Haar der Frau über ihre Schultern, seitlich abwärts, die schlanken Oberarme hinab, die ebenso mit dem leichten Gewand verhangen waren wie der Rest ihres Leibes. Sie lehnte sich jetzt zurück, ganz sachte gegen mich, preßte ihren Hinterkopf an meine Schulter, an meine Wange. Ihr Haar verschleierte immer noch jeden Blick in ihr Gesicht, und ich wagte nicht, sie umzudrehen, ihr in die Augen zu schauen. Wagte es nicht, weil ich nicht wußte, was mich erwartete, wer mich erwartete. Dies war noch nicht der rechte Zeitpunkt, nicht jetzt, vielleicht gleich, vielleicht später.
    Meine Finger erreichten ihre Ellbogen, tasteten weiter hinab, wollten ihre Hände unter dem Überwurf umfassen. Ich konnte sie unter dem Stoff fühlen, ihre Handrücken, dann die zarten, langen Finger. Doch als ich den Saum heben, ihn beiseite schlagen wollte, schüttelte sie meine Hände ab, nicht wütend, nicht energisch, eher mit schelmischer Leichtigkeit. Einen Moment lang wagte ich nicht, einen zweiten Versuch zu machen, doch dann wurde mir bewußt, wie eng sich ihr Rücken und ihre Schenkel an meinen Körper schmiegten. Sie wies mich nicht ab, sondern spielte nur mit mir.
    Kein Laut, nur das Weinen des Mädchens. So unsagbar traurig, so leidend.
    Meine Hände umfaßten erneut ihre Unterarme, ein wenig fester, drängender diesmal. Sie ließ mich gewähren und rieb ihr Haar zärtlich an meinem Gesicht. Ihre Arme waren dünn, beinahe filigran. Ich ließ meine Hände tiefer gleiten, streichelte ihre Finger durch den feinen Stoff, wartete ab, was sie tun würde. Sie drehte ihre Hände, umfaßte die meinen, obwohl uns immer noch der Umhang trennte. Selbst durch das Gewebe hindurch fühlte ich die Wärme ihrer Haut. Sie hob meine Hände, führte sie an ihre Hüften, schob sie dann an ihrem flachen Bauch empor. Ich fragte mich, ob sie meinen schnellen Atem hören konnte, auch wenn ich selbst es nicht vermochte; ganz sicher spürte sie durch ihren Rücken, wie hastig sich meine Brust hob und senkte.
    Manchmal schien es mir, als zöge sich der Tunnel der wirbelnden Blätter um uns herum zusammen, um dann wieder auseinanderzuschnellen. Die unsichtbaren Ströme, die das Laub trugen, pulsierten in einem eiligen Rhythmus. Die Frau achtete nicht darauf, und ich brauchte einen Augenblick, ehe ich begriff, daß der Rhythmus der

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