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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Darfst es nicht! Sonst wirst du nie erfahren, was hier vorgeht.
    Widerwillig riß ich mich von ihrem Anblick los – viel zu schnell, denn abermals wurde ich von Schwindel ergriffen und kämpfte um mein Gleichgewicht. Der Alkohol besänftigte meine Sorgen. Nichts war wirklich so schlimm, wie es aussah.
    Nicht meine Trunkenheit, nicht mein Einbruch in ein fremdes Haus. Nicht der Grund meines Hierseins. Alles nicht schlimm.
    Die wenigen Schritte bis zur Kleidertruhe an der Seitenwand schaffte ich ohne ein Geräusch. Auf dem Deckel stand eine leere Vase. Ich hob sie vorsichtig herunter und stellte sie vor der Truhe auf die Dielen. Dann klappte ich den Deckel nach oben, erst nur ein Stück, um zu horchen, ob die Angeln knirschten. Sie blieben still. Das Innere der Truhe war gänzlich von Schatten verhangen. Ich mußte hineingreifen, um zu erkennen, daß sie wie erwartet leer war. Nur unten auf dem Truhenboden ertastete ich Stoff, hob ihn hoch: Annas alte Nonnenkluft.
    Hinter mir regte sich etwas, ein leises Knistern ertönte.
    Alarmiert schaute ich mich um. Anna bewegte sich zaghaft unter dem Laken, ohne die Augen aufzuschlagen. Ich erstarrte, atemlos. Erst nach einer Weile, als ich sah, daß sie weiterschlief, kletterte ich ins Innere der Truhe und ging in die Knie. Sie bot genug Platz, um sie zu schließen und dabei den Oberkörper aufrecht zu halten. Ich knüllte einen Zipfel des Nonnengewandes zusammen und blockierte damit den Deckel; er stand nun einen Spalt weit offen, halb so breit wie mein kleiner Finger. Weit genug, um hindurchzuschauen.
    Anna schlief weiter, ohne sich noch einmal zu regen. Der Schlag meines Herzens schien mir verräterisch laut, doch nach einer Weile wurde ich ruhiger. Was, wenn in dieser Nacht gar nichts geschah? Wenn ich umsonst in diesem lächerlichen Versteck saß? Vor allen Dingen durfte ich nicht einschlafen.
    Am Morgen aufzuwachen und den ganzen Tag in der muffigen Kiste zu sitzen, damit niemand meine Schande bemerkte, war eine ernüchternde Vorstellung.
    Ich schwitzte, obwohl mir nicht heiß war. Im Gegenteil, je länger ich in der Truhe kauerte, desto stärker begann ich zu frieren. Irgendwann fühlte ich meine Füße nicht mehr. Als ich sie unter mir bewegte, war es, als stäche jemand Nadeln durch meine Fußsohlen. Ich verlagerte mein Gewicht, änderte so leise wie möglich die Stellung, doch kaum waren ein paar Minuten vergangen, begann die Tortur von neuem. Schon verfluchte ich mein unseliges Vorhaben, schob es dem Einfluß des Alkohols zu und erwog sogar, wieder von hier zu verschwinden. Zudem verlor ich das Gefühl für die Zeit.
    Nachdem meine Aufregung schließlich nachgelassen hatte, stellte sich Langeweile ein. Die Müdigkeit drohte mich zu überwältigen. Es kostete Kraft, die Augen offenzuhalten. Das dunkle Zimmer schien sich um mich zu drehen, und irgendwann hörte ich auf, den Truhenboden zu spüren. Müde, unendlich müde, schwebte ich im Nichts. Mehrfach ertappte ich mich dabei, eingenickt zu sein; ein paarmal stieß ich mir dabei den Kopf am Holz der Kiste.
    Stunden mußten vergangen sein, als ich plötzlich vor der Kammertür Geräusche vernahm. Leise, verstohlene Schritte.
    Jemand kam die Treppe herauf. Das Zischen seines schweren Atems drang bis in mein Versteck.
    Die Tür ging auf, ein Schemen huschte herein. Pater Limberg trug seinen Hut und den langen dunklen Mantel, genau wie in jener Nacht, als ich ihn zum erstenmal vor dem Haus des Bäckers beobachtet hatte. Sorgfältig schob er hinter sich die Tür ins Schloß, legte Mantel und Hut ab und warf sie achtlos über die Kiste. Der schwarze Stoff breitet sich flatternd über den Spalt und versperrte mir die Sicht.
    Starr vor Wut und Enttäuschung, aber auch zu müde und betrunken, um auf Anhieb einen klaren Gedanken zu fassen, hockte ich da, konnte nichts sehen und beinahe ebensowenig hören. Gedämpft drangen Limbergs Schritte an mein Ohr, als er an Annas Bettkante trat, dann vernahm ich dumpfes Murmeln. Ich fluchte im stillen vor mich hin und tastete vergeblich nach irgend etwas, mit dem ich den Umhang hätte beiseite schieben können, ohne den Deckel zu heben.
    Vielleicht, wenn ich von unten ein wenig dagegen drückte, den Spalt breit genug machte, um einen Finger
    hindurchzustecken… Aber, nein, Limberg würde es bemerken.
    Er war verblendet, aber nicht blind.
    Das leise Murmeln ging weiter, immer wieder von längeren Pausen unterbrochen. Farbige Flecken tanzten vor meinen Augen, während ich verbissen in die

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