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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Augenblick lang sah es aus, als wollte er ausholen und mir einen Schlag ins Gesicht verpassen. »Sie sind passiert, Brentano!«
    »Sie enttäuschen mich, Pater«, gab ich ruhig zurück. »Nach Ihrem Besuch im Gasthof nahm ich an, daß Ihnen mehr einfallen würde als ein paar Floskeln.« Und das war die Wahrheit: Ich hatte tatsächlich befürchtet, er würde subtiler zu Werke gehen. Aber nach fünf Tagen, in denen er meine Anwesenheit murrend toleriert hatte, war ihm nun offenbar der Kragen geplatzt. Ich machte kein Geheimnis aus der Genugtuung, die ich angesichts seiner Aufregung empfand.
    Dann aber, zu meinem jähen Schrecken, sagte Anna leise:
    »Vielleicht ist es besser, wenn Sie jetzt gehen.« Ein Blick in ihre traurigen Augen, und ich wußte, daß die Worte tatsächlich an mich gerichtet waren.
    »Meinen Sie das ernst?«
    »Sie haben sie doch gehört«, zischte Limberg, auf einen Schlag viel ruhiger geworden. Der Triumph in seinem Blick tat weh, doch nicht so sehr wie mein stummes Eingeständnis, daß ich das Band zwischen Anna und mir überschätzt hatte.
    Limbergs Macht war ungebrochen.
    Mit einem Ruck stand ich auf. »Sie sollten sich das nicht bieten lassen«, sagte ich zu Anna. »Er ist Ihr Beichtvater, nicht mehr. Sie müssen nicht tun, was er von Ihnen verlangt.«
    Limberg funkelte mich finster an. »Sie sind nur zu Gast in diesem Haus, Brentano. Es ist längst an der Zeit, daß Sie Dülmen verlassen.«
    »Ist das auch Ihr Wunsch?« fragte ich Anna.
    Sie schloß die Augen, ihre Stimme war sehr leise. »Ich möchte, daß Sie jetzt gehen. Alle beide.«
    Limberg wollte überrascht widersprechen, doch da legte ich ihm schon meine Hand auf den Unterarm. »Nun kommen Sie schon!«
    Anna nickte erschöpft. »Tun Sie, um was ich Sie gebeten habe. Ich brauche jetzt ein wenig Ruhe.«
    Ich schaute Limberg an, wies dann zur Tür. »Bitte, nach Ihnen.«
    Ein wütendes Beben durchlief seinen Körper. »Sehen Sie denn nicht«, preßte er hervor, »daß sie gleich in eine Ekstase fallen wird?«
    »Anna war die ganze Zeit vollkommen ruhig. Bis Sie kamen.«
    »Aber schauen Sie doch hin!«
    Unsicher geworden betrachtete ich Annas Gesicht.
    Schweißperlen glitzerten in ihren dunklen Brauen, rollten über ihre geschlossenen Augenlider. Ihre Lippen standen einen Spalt weit offen, und ich sah, daß ihre Zunge dahinter zitterte, als würde sie vergeblich versuchen, Worte zu formen. Der Verband um ihre Stirn hatte sich zartrot gefärbt, und plötzlich trat ein Blutstropfen unter dem Rand hervor, lief in einen Augenwinkel und von dort aus weiter an ihrer Wange herab, eine einzelne blutige Träne.
    Da ertönte hinter unseren Rücken eine Stimme: »Sind Sie schwerhörig? Verschwinden Sie endlich!«
    Gertrud stand in der offenen Tür, aufgeplustert wie eine wütende Glucke, bereit, ihre Brut mit aller Kraft zu verteidigen.
    »Sie können nicht…«, wollte Limberg protestieren, doch da drängte sich die Frau bereits grob zwischen uns hindurch und baute sich vor Annas Lager auf. Sie fühlte die bandagierte Stirn ihrer Schwester, sorgenvoller, als ich es ihr je zugetraut hätte, tastete nach Annas Puls und zählte stumm.
    Als ich schon glaubte, sie hätte uns völlig vergessen, wirbelte sie plötzlich herum. »Um Gottes willen, Sie sind ja immer noch hier!« Und an den sprachlosen Limberg gewandt, setzte sie hinzu: »Hauen Sie ab! Auf der Stelle!«
    Aus meiner Starre erwacht, nickte ich ihr fahrig zu, warf einen letzten Blick auf Anna, deren Brust sich immer schneller hob und senkte, dann packte ich Limberg am Arm und zog ihn achtlos die Treppe hinunter ins Freie.
    Im Hinterhof des Bäckerhauses ließ ich ihn stehen, lief hinaus auf die Straße und machte erst wieder halt, als über mir die Messingtafel eines Wirtshauses schaukelte.
    Stundenlang saß ich im Schankraum, allein an einem Ecktisch, leerte Glas um Glas, bis vor den Fenstern die Nacht anbrach.
    Es war stockdunkel, als ich die Wirtschaft verließ. Die Geräusche der übrigen Zecher klangen noch in meinen Ohren, als die Tür schon hinter mir zugefallen war. Ihre Gespräche, Gesänge und tumben Scherze schienen mir zu folgen wie das Nachglühen der Sonne, wenn man zu lange hineingeschaut hat.
    Mein Plan stand fest, und ich brannte darauf, ihn in die Tat umzusetzen. Mit gesenktem Blick starrte ich beim Gehen auf eine Zeile von Pflastersteinen vor meinen Füßen, um trotz meiner umnebelten Sinne nicht zu schwanken. Es gelang mir nicht allzugut. Jeder mußte schon von weitem
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