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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Nervensträngen meinen Hals herauf geradewegs ins Gehirn.
    Annas Nähe durchströmte mich wie ein Schub fremder, heißer Kraft, ihre Zuneigung, ihr Vertrauen, ihre Hoffnung.
    »Darf ich Ihnen noch mehr von Maria erzählen?« fragte sie zaghaft. »Nur, wenn Sie es wollen. Wenn Sie es wirklich wollen.«
    Ich nickte stumm, versank im Ozean ihrer Blicke. Erzähl mir von ihr, dachte ich benommen wie ein Süchtiger. In diesem Moment hätte ich sie angefleht, wenn sie es sich anders überlegt hätte.
    Sie neigte den Kopf, schaute mich aufmerksam an. »Es ist Ihnen nicht peinlich?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Überhaupt nicht.«
    »Es ist seltsam, über so etwas zu sprechen, wissen Sie? Vor allem, wenn man vorher noch nicht einmal daran denken durfte.«
    »Glauben Sie mir, darüber zu sprechen ist auch dann noch seltsam, wenn man tagtäglich daran denkt.«
    Sie schenkte mir ein rätselhaftes Lächeln, blickte dann auf die Blutflecken auf dem Laken. »Sehen Sie nur«, sagte sie und riß die Augen auf, »der Fleck hier, dieser hier, er sieht aus wie…«
    »Der Körper einer Frau«, führte ich den Satz zu Ende, vorgebeugt und in die Betrachtung der dunkelroten Formen versunken. »Tatsächlich.«
    Sie lachte. »Ach, Sie! Wie Jesus am Kreuz, wollte ich sagen.«
    Ich fiel in ihr Lachen mit ein. »Das ist mir peinlich!«
    »Schauen Sie doch«, sagte sie lächelnd, zog eine Hand unter dem Laken hervor und deutete auf die Flecken. »Das hier ist der Körper, sogar mit Lanzenstich, ein bißchen groß, vielleicht, und das sind die gespreizten Arme.«
    »Und ich dachte, das Gespreizte wären die Beine.«
    Sie wurde sehr rot und erschrak, sichtlich im Zweifel, ob wir zu weit gegangen waren. Dann aber brach ein befreiendes Lachen aus ihr heraus. »Ich glaube, jetzt sehe ich, was Sie meinen«, sagte sie und starrte das trocknende Blut an.
    »Natürlich, es ist eine Frau! Lieber Gott, wie konnte ich das nur übersehen!«
    Ich beobachtete sie genau, jede ihrer Regungen. »Seien Sie ehrlich, Sie sehen sie nicht wirklich, oder? Sie schämen sich nur.«
    »Aber nein«, protestierte sie übermütig. »Hier, das sind die Beine, Sie hatten ganz recht, und das hier ist der Oberkörper –
    man muß es nur andersherum betrachten! Mein Jesus hatte keinen Kopf, aber Ihre Frau hier, die hat alles. Also, die Beine, den Oberkörper… hm… dann müssen das die Arme sein, aber sie hat sie zum Himmel gestreckt. Vielleicht betet sie? Das wäre möglich, oder? Aber mit gespreizten Beinen?« Plötzlich kicherte sie wie ein kleines Mädchen, beschämt und doch vergnügt. »Auf jeden Fall ist es eher eine Frau als ein Gekreuzigter.«
    Nach einer Weile, in der wir einander ansahen, ohne ein Wort herauszubringen, fragte sie: »Soll ich jetzt anfangen? Mit dem Erzählen, meine ich.«
    »Wann immer Sie möchten.«
    Sie saß mit aufrechtem Oberkörper im Bett, zwei dicke Federkissen zwischen Rücken und Wand. Langsam veränderte sie ihre Position, nur ein wenig, und wollte beginnen, als es unvermittelt an der Tür klopfte. Wir schauten uns erschrocken an. Keiner von uns hatte Schritte auf der Wendeltreppe gehört.
    Der Besucher wartete nicht erst, bis Anna ihn hereinbat. Die Tür ging auf, und herein kam Pater Limberg, rotgesichtig, aufgebracht, schaute erst Anna an, dann das Blut auf ihrer Decke und fixierte dann mich mit einem vernichtenden Blick.
    Er hat zugehört, durchfuhr es mich. Er hat die ganze Zeit an der Tür gelauscht!
    Falls er es wirklich getan hatte, verlor er kein Wort darüber.
    Statt dessen trat er schweigend neben mich, ging vor der Korbkrippe in die Knie, senkte die geschlossenen Augen zum Boden und begann mit gefalteten Händen zu beten; im ersten Moment sah es aus, als würde er Anna huldigen. Ich warf ihr einen prüfenden Blick zu, doch sie beachtete mich nicht, schaute nur mit rasendem Atem und bebender Brust auf den Pater.
    Limberg murmelte die Verse seines Gebetes herunter, ohne daß ich ein einziges Wort verstanden hätte. Nachdem er geendet hatte, stand er wieder auf und erwartete wohl, daß ich den Hocker für ihn räumte. Als ich keine Anstalten machte und auch seinen Blick mit gespielter Ruhe erwiderte, schnaubte er verächtlich und wandte sich an Anna.
    »Ich muß protestieren«, platzte er wütend heraus. »In allerschärfster Form muß ich protestieren!«
    »Was ist denn passiert?« fragte ich mit Unschuldsmiene.
    »Was passiert ist? Herrgott, Sie haben die Unverfrorenheit, das zu fragen?« Er beugte sich vor, und einen
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