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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erkennen, wie es um mich stand.
    Ach was! schrie es in mir. Was kümmert es dich? Sollen sie doch denken, was sie wollen!
    Es war nicht weit bis zum Haus des Bäckers. Der Nachtwächter entzündete gerade eine Laterne und sagte seinen schlecht gereimten Spruch auf. Bald elf Uhr. Ich zog mich in den Schatten eines Hauseingangs zurück, wartete, bis der Mann weitergegangen war, und eilte dann durch das offene Tor auf den Hinterhof. Nirgends brannte Licht. Ich blickte hinauf zum Fenster von Annas Eckzimmer, oberhalb des Verandadaches. Es stand einen Spalt weit offen, wie immer, wenn Doktor Wesener nicht da war. Der Raum dahinter lag in völliger Dunkelheit.
    Der Hof schien unter meinen Füßen zu schwanken, und so war ich beinahe erleichtert, als ich an einem der Dachträger emporkletterte. Die Balken waren mit grobem Schnitzwerk verziert, das Händen und Füßen guten Halt gab. Schon Augenblicke später stieg ich über die Holzrinne auf das Vordach. Es war geteert, meine Füße verursachten kaum einen Laut.
    Niemand schlug Alarm, als ich mich dem offenen Fensterspalt näherte. Davor ging ich in die Hocke, damit mich von innen keiner bemerkte. Ich mußte mich ein wenig vorbeugen, bis ich Anna unterhalb des Fensterbretts erkennen konnte. In der ersten Sekunde glaubte ich, sie sei wach; sie lag genauso da wie am Tag, mit aufgerichtetem Oberkörper, die Arme zu beiden Seiten ihres Körpers ausgestreckt. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging sanft und regelmäßig. Einen Moment lang verlor ich bei ihrem Anblick fast den Mut, so friedlich wirkte sie, schlummernd in gutgläubigem Gottvertrauen.
    Unendlich langsam schob ich das Fenster nach innen. Die Scharniere gaben nach, ohne jedes Knarren. Lautlos schwang das Fenster nach innen, über Anna in ihrem Bett hinweg. Ich war so angespannt, daß ich fürchtete, der huschende Schatten des Rahmens könnte sie aufwecken. Doch Anna rührte sich nicht.
    Obwohl alles in mir danach schrie, mein verrücktes Vorhaben aufzugeben, richtete ich mich vor dem Fenster zu voller Größe auf, stützte mich auf den Rand und schwang das rechte Bein in weitem Bogen ins Innere. Die Korbkrippe war nicht breit, es bereitete keine Mühe, darüber hinwegzusteigen. Allerdings hatte ich nicht bedacht, daß der Boden der Kammer tiefer lag als das Vordach. Mein Bein war zu kurz, um die Dielen zu erreichen, mein Fuß tastete ins Leere.
    Der Anblick, den ich bot, war zweifellos grotesk: Rittlings auf dem Fensterbrett sitzend, ein Bein im Freien, eines lang ausgestreckt über der schlafenden Anna. Zu spät, um jetzt noch umzukehren. Ich hatte mich zu weit vorgebeugt, hielt mit Mühe mein Gleichgewicht und hätte mein Bein nicht zurückziehen können, ohne mich auf dem Bett abzustützen.
    Mir blieb also nur der Weg nach innen.
    Ich biß die Zähne aufeinander, schloß die Augen und ließ mein Bein mit einem Ruck über den Korbrand kippen. Mein Fuß berührte den Boden! Dafür geriet jedoch mein Oberkörper ins Schwanken, ich verlor meinen Halt auf dem Vordach, fing mich in letzter Sekunde mit den Händen ab, spürte aber, daß ich dennoch fallen würde, geradewegs auf Anna!
    Ohne nachzudenken stieß ich mich im Fallen vom Fenster ab, taumelte in bizarrem Spagat über Anna hinweg und polterte eine Fingerbreite neben dem Bett auf die Dielen. Starr blieb ich liegen, wagte nicht, Luft zu holen, horchte auf Annas Atem, auf ein Rascheln, auf irgendeinen Laut.
    Sie blieb ruhig, atmete in gleichmäßigem Rhythmus. Schlief weiter.
    Drei, vier Minuten lang lag ich flach am Boden, lauschte in die Stille, wartete auf Gertruds Schritte im Treppenhaus oder das Anschlagen eines Hundes. Erst als mein Herzschlag langsamer wurde und meine Sinne sich ein wenig klärten, erhob ich mich lautlos, schob das Fenster wieder in seine alte Position und betrachtete im Dunkeln Annas Gesicht.
    Gertrud hatte ihren Stirnverband gewechselt, ebenso das Laken. Falls es im Haus tatsächlich kein Verbandszeug gab, mußte sie losgelaufen sein, um welches zu besorgen. Das paßte überhaupt nicht zu dem Bild, das ich mir von Gertrud gemacht hatte.
    Annas Züge waren entspannt, Augen und Mund fest geschlossen. Sie wirkte ruhig, aber auch sehr verletzlich.
    Mitleid packte mich, und ich verspürte den heftigen Drang, ihre bleichen Wangen zu streicheln. In mir war plötzlich eine Zärtlichkeit, die selbst den schwarzen Abgrund, den der Branntwein in mein Denken gerissen hatte, mit Sinn erfüllte.
    Nein, schalt ich mich, du darfst sie nicht wecken.

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