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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Schwärze starrte. Meine Kräfte schwanden dahin und mit ihnen meine Geduld. Wie lange sollte ich noch in dieser Stellung ausharren, ohne einzugreifen? Die Hilflosigkeit machte mich irre! Ich war hergekommen, um zu sehen, ob mein Verdacht gegen Limberg gerechtfertigt war. Ihn aber zu stellen, bevor ich die letzte Gewißheit hatte, wäre Torheit gewesen. Verzweifelt, beschämt, vor allem aber zornig kauerte ich in der Truhe. Doch nicht einmal der Ansturm meiner Gefühle vermochte mich wachzuhalten. Schlaf überkam mich wie die tiefste Bewußtlosigkeit.
    Ich erwachte von vager Helligkeit. Der schwarze Stoff vor dem Spalt war verschwunden. Durch die offene Ritze sah ich, wie Limberg sich den Mantel über die Schultern warf und seinen Hut aufsetzte. Er hatte eine Kerze entzündet, die auf der Gebetbank neben Annas Bett stand; sie war zur Hälfte heruntergebrannt. Ihr Schein hatte mich geweckt, nicht etwa das Tageslicht, wie ich einen Moment lang befürchtet hatte.
    Draußen, vor dem angelehnten Fenster, war der Himmel immer noch rabenschwarz.
    Anna lag unverändert in ihrem Bett, das Laken bedeckte sie bis zur Brust. Ihre Augen waren geschlossen, sie schien trotz des Lichts zu schlafen. Limberg beugte sich kurz über ihr Gesicht, ich konnte nicht sehen, ob er ihr einen Kuß gab.
    Zuletzt blies er die Kerze aus. Mit wehendem Mantel ging er an meinem Versteck vorbei und öffnete die Tür.
    Ich wollte aufatmen, als er schlagartig herumfuhr. Seine Augen verengten sich. Dann trafen sich unsere Blicke.
    Mit plötzlicher Schärfe nahm ich den Alkoholdunst wahr, der mich in der Kiste umwogte. Verräterisch. Ebensogut hätte mein Rockschoß aus dem Spalt baumeln können.
    Limberg machte zwei Schritte auf die Truhe zu. Ich wollte schon aufstehen, um keinen gar so jämmerlichen Anblick zu bieten. Da bückte sich der Pater, hob die Vase vom Boden und stellte sie oben auf den Deckel. Mit einem letzten Blick auf Anna drehte er sich um, verließ die Kammer und zog lautlos die Tür hinter sich zu. Minutenlang saß ich da wie versteinert, während die Erleichterung wie eine warme Woge von meinem Kopf bis hinab in die tauben Fußspitzen floß.
    Anna schlug im Dunkeln die Augen auf und sagte: »Sie können jetzt aus Ihrem Versteck kommen, Pilger.«
    Meine Erleichterung gefror zu einem Ring aus Eis, der sich wie Ketten um meine Brust legte. Zögernd schob ich den Deckel nach oben. Die Vase fiel um und zerschellte am Boden.
    Anna seufzte erheitert. »Sehen Sie nur, was Sie getan haben.«
    Stockend richtete ich mich auf. »Und ich dachte, Sie mögen keine Blumen.«
    »Das hat Wesener Ihnen erzählt, nicht wahr?« Sie kicherte leise. »Er glaubt, die Blütenpollen sind schlecht für meine Gesundheit.«
    »Es tut mir leid«, sagte ich stockend. »Ich wollte nicht…«
    »Nun kommen Sie doch erst einmal aus dieser dummen Kiste heraus. Und reden Sie leiser. Gertrud hat zwar einen tiefen Schlaf, aber Sie sind laut genug, um die ganze Nachbarschaft aufzuwecken. Um ehrlich zu sein, Sie sind kein besonders guter Einbrecher.«
    »In letzter Zeit fehlte es mir ein wenig an Übung.«
    Ich trat an ihr Bett und haßte mich für mein Ungeschick, vor allem aber für meine Trunkenheit.
    »Sie haben es gut gemeint, ich weiß«, kam sie meiner nächsten Entschuldigung zuvor. »Und jetzt setzen Sie sich und seien Sie still. Wir wollen hören, ob Gertrud im Haus herumstreift.«
    Während ich so dasaß, dabei vor Scham am liebsten im Dielenboden versunken wäre, und auf Geräusche im Treppenhaus lauschte, entdeckte ich, daß Annas Kopfverband befleckt war. Sie hatte wieder geblutet, auch an den Händen und Füßen. Sogar das Laken war gerötet. Als ich durchs Fenster gestiegen war, waren Bandagen und Decke noch sauber gewesen.
    Nach einer Weile, in der sie mich eingehend musterte, sagte sie: »Die gute Gertrud. Sie schläft wie eine Tote.«
    »Haben Sie etwa die ganze Zeit über gewußt, daß ich in der Truhe sitze?«
    »Aber ja doch«, meinte sie schmunzelnd. »Es war gar nicht so leicht, dabei ernst zu bleiben.«
    »Warum haben Sie nichts gesagt?«
    »Ich nahm an, wenn Sie sich schon die Mühe machen, heimlich durch mein Fenster zu steigen, würden Sie wohl einen guten Grund dafür haben. Ich hatte nicht den Eindruck, daß Sie gekommen waren, um sich zu unterhalten.«
    »Sie machen sich über mich lustig.« Aber ich empfand nicht einmal Unmut darüber, so sehr schämte ich mich.
    »Nur ein wenig.« Sie unterdrückte ein Lachen, nur um Sekunden später doch noch
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