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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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ihr vorging. Sie versuchte ein ums andere Mal von neuem, sich hinter ihrem Glauben zu verstecken.
    »Ich wollte Ihnen nicht weh tun«, sagte ich behutsam. »Ich bin ungeschickt, ich weiß, aber wie sonst kann ich Ihnen denn helfen?«
    »Schon gut.« Sie sprach sehr leise, und ich fragte mich, ob sie weinte. Im Dunkeln war das schwer zu erkennen.
    »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Aber wenn Sie mir helfen wollen, wirklich helfen, dann hören Sie zu.« Sie verstummte, um nach einem Augenblick noch einmal zu sagen: »Hören Sie mir einfach nur zu.«
    Mühsam zog sie ihre Hand unter der Decke hervor. Ich griff danach und spürte ihr warmes Blut auf meiner Haut.
    »In all den Jahren hat die Heilige Jungfrau nie zu mir gesprochen«, begann sie. »Immer kommt sie nur schweigend zu mir, und auch ich selbst bin stumm in ihren Armen. Noch nie war ein Geräusch zwischen uns, nicht von ihren Schritten, nicht wenn unsere Körper sich berühren. Und doch höre ich etwas, wenn wir zusammen sind.«
    »Das Weinen eines Kindes«, flüsterte ich gebannt. »Ein kleines Mädchen.«
    »Sie hören es auch?« Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Das ist wahrlich ein Wunder. Sie sind tatsächlich auserwählt, Pilger, vom Schöpfer aus erwählt.«
    »Warum nennen Sie mich immer nur Pilger? Sie kennen doch meinen Namen.«
    »Sie kamen hierher als Pilger, auch wenn Sie es selbst nicht wahrhaben wollen. Sie waren auf der Suche, Sie sind es noch immer. Pater Limberg hat recht gehabt, als er sagte, daß Sie etwas suchen, woran Sie glauben können.«
    »An Ihren Gott etwa?« Ich verzog das Gesicht. »An einen Gott, der Wunden in Ihre Hände und Füße bohrt, der Ihnen Schmerzen zufügt, ganz gleich, ob Sie es als Strafe oder Buße oder Gnade ansehen? Nein, Anna, vielen Dank. Diesen Gott können Sie getrost für sich behalten.«
    »Mag sein, daß es hier auch um den Glauben an Gott geht.
    Aber ich bin sicher, das ist nicht der Grund, weswegen Sie hier sind. Der Herr – oder das Schicksal -hat Sie hergeführt, um an etwas ganz anderes zu glauben: an mich.«
    Ein ganz leichtes Zittern ihrer Finger lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Blut an unseren Händen. Es war immer noch warm. Es fühlte sich an, als ob sie mir ein Geschenk machte.
    »Reden Sie weiter«, bat ich und bemerkte irritiert, daß meine Stimme stumpf und rauh geworden war. »Erzählen Sie mir von ihren nächsten Begegnungen.«
    »Es begann damit, daß ich auf einem verlassenen Pfad wanderte, östlich von Bethlehem. Es kommt häufig vor, daß mich die Visionen ins Heilige Land führen. Ich kenne es gut, so als wäre ich dort zu Hause. Pater Limberg sagt oft zu mir, ich hätte es besser, wenn ich dort geboren wäre, in Jerusalem oder Nazareth oder Jericho. Er sagt, dort gäbe es keinen, der mir nicht glauben würde. Menschen aus der ganzen Welt kämen dann an mein Lager, Pilger wie Sie«, sie schmunzelte,
    »und alle würden meinen Berichten lauschen und mit mir und dem Pater zu Gott beten.«
    »Das wünscht Limberg nicht für Sie, sondern nur für sich selbst«, warf ich verächtlich ein.
    »Nicht für mich, aber für die Menschheit«, widersprach sie.
    »Er sagt, würden alle mehr beten, dann würde es jedermann besser gehen.«
    Das bestätigte nur meinen Verdacht, daß Limbergs Mühen hier in Dülmen allein seinem Ansehen innerhalb der Kirche und nicht Annas Wohlergehen galten. Anna als lebendes Wallfahrtsobjekt im Heiligen Land, Limberg als ihr oberster Jünger – das mußte ihm zweifellos gefallen.
    »Ich wanderte also auf diesem Pfad aus Bethlehem hinaus«, fuhr sie fort. »Er bog nach links, an ein paar Gräben und Wällen vorbei. Nach einer Weile führte er zu einem Hügel, an dessen Fuß verschiedenes Nadelholz stand, aber auch Bäume ohne jeden Bewuchs, mit kahlen, grauen Asten. An der Südseite des Hügels, dort wo der Weg weiterfuhrt ins Tal der Hirten, befanden sich einige Höhlen, die von den Menschen als Scheunen oder Viehschuppen benutzt wurden. Ich wußte gleich, daß dies der Ort war, an dem Joseph für sich und seine Braut Unterschlupf gesucht hatte, in jener ersten Heiligen Nacht, als der Heiland zur Welt kam.
    Von Westen aus führte ein enger Gang in einen Raum, halb dreieckig, halb rund, ungefähr in der Form eines Tropfens. Die Höhle bestand größtenteils aus Fels, nur an einer Seite waren ein paar gebrannte Mauersteine eingefügt. Inmitten der Steine gab es einen kleinen Durchgang,
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