Das Generationenschiff
verziert, durch die sich ein einzelner schwefelgelber Faden wand. Lunzies Blick folgte diesem Faden und richtete sich dann wieder auf die Hände des Meisters, die gerade zwei blütenblätterzarte Tassen und Untertassen sanft berührten. Er hielt ihr eine hin, und sie nahm sie entgegen. Selbst im gedämpften Licht im Innern des Pavillons schien die Tasse zu glühen. Lunzie fühlte die Wärme des Tees durch das Porzellan. Der Duft wirkte beruhigend.
Nach einiger Zeit hob er seine Tasse und trank einen Schluck, und Lunzie tat dasselbe. Sie sagten nichts, denn zu diesem Zeitpunkt mußte nichts gesagt werden. Sie teilten die Stille, den Tee, den kleinen Teich, in den Wasser aus einem Brunnen plätscherte, und den Karpfen, der es von unten aufwühlte.
Unter anderen Umständen hätte Lunzie vielleicht gedacht, wie sehr sich diese Szene doch von der Welt unterschied, die sie eben verlassen hatte, aber solche Gedanken waren überflüssig. Wichtig war nur, daß sie die Schönheit vor ihren Augen anerkannte und wertschätzte. Während sie den Karpfen beobachtete und in regelmäßigen Abständen einen Schluck Tee trank, trat ein Novize an den Teich und warf eine Handvoll Brotkrumen hinein. Der Karpfen tauchte mit wilden Flossenschlägen an die Oberfläche. Ein leises Plätschern übertönte des regellose Lied des Brunnens. Der Novize zog sich zurück.
Als der Meisteradept sprach, war seine Stimme kaum lauter als dieses Plätschern. »Es ist dieses Gefühl des Verlustes, das uns Sorgen bereitet, Adeptin Lunzie. Wenn man weiß, daß einem nichts gehört, kann man auch nichts verlieren und nichts betrauern.«
Ihr Geist schreckte davor zurück wie vor heißem Metall. Es war eine ganz unwillkürliche Reaktion. Der Meister hatte nie ein Kind gehabt, und sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.
»Ich rede nicht von Ihrem Kind«, sagte er. »Ein Mutterinstinkt ist keiner Übung zugänglich … und so muß es auch sein. Es geht um die Jahre, die du verloren hast und die du als ›deine‹ bezeichnest. Die Zeit gehört niemandem. Niemand kann auch nur einen Augenblick für sich beanspruchen.«
Ihr Herz schlug wieder ruhiger. Sie konnte die Wärme in ihrem Gesicht spüren, die sie verraten hatte. Aus Scham errötete sie gleich wieder.
»Ehrwürdiger Meister … was ich fühle … ist Verwirrung.«
Es war immer besser, zu sagen, was man fühlte, als zu sagen, was man dachte. Es war mehr als eine Tradition in das Konzept der mentalen Disziplin eingegangen, und der Ehrwürdige Meister hatte das geradezu sokratische Talent, einen verlogenen Gedanken bis an seinen Ursprung zurückzuverfolgen und zu entlarven. Lunzie wagte ihn nicht anzusehen. Er beobachtete sie mit diesen glänzenden schwarzen Augen, in denen keine Spur von Belustigung funkelte. Diesmal nicht.
»Verwirrung? Glaubst du vielleicht, daß du die Zeit als dein Eigentum beanspruchen kannst?«
»Nein, Ehrwürdiger Meister. Aber …«
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte ihn so lang nicht gesehen. Wie gut war er darüber unterrichtet, was mit ihr geschehen war? Wie sollte er helfen, wenn sie nicht alles erklärte? Zu ihrer Grundausbildung als Novizin hatte es unter anderem gehört, Erinnerungen und Ereignisse zu ordnen und miteinander in Beziehung zu setzen. Sie besann sich darauf und erzählte fast unwillkürlich mit ruhiger, langsamer Stimme von ihren langjährigen Abenteuern, als seien sie von jemand anderem über das Leben eines Fremden geschrieben worden.
Er hörte zu und achtete darauf, daß nicht die kleinste Änderung seines Gesichtsausdrucks ihre Fähigkeit beeinträchtigte, sich an das Geschehene zu erinnern und darüber zu berichten. Als sie fertig war, nickte er einmal.
»Jetzt verstehe ich deine Verwirrung, Adeptin Lunzie. Du bist bis an die Grenze deiner Fähigkeiten belastet worden. Und trotzdem bist du wie das biegsame Schilf gewesen: Du bist nicht gebrochen.«
Damit hatte er ihr Verhalten akzeptiert und sie sogar gelobt. Diesmal brachte die Wärme, die über sie hinwegstrich, ihren verkrampften Gliedern Entspannung und drang bis in Winkel ihrer Seele vor, die trotz der Reinigung des Steins noch wund waren. Sie hatte fest damit gerechnet, daß er sagen würde, sie habe versagt, sie sei nicht würdig, eine Adeptin zu sein.
»Deine Ausbildung«, sagte er, »hat nicht die besonderen Belastungen berücksichtigt, die Menschen nach wiederholten temporalen Verschiebungen ausgesetzt sind, obwohl du uns auf das Problem aufmerksam gemacht
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