Das Generationenschiff
schon verneinen, als sie im Aufflackern einer Erinnerung das Gesicht eines enthusiastischen Teenagers vor sich sah, der mit seiner Schulklasse durch eine Klinik geführt wurde. Wo war das nur gewesen? Lunzie wußte nicht recht … aber er war der neugierigste von allen gewesen und hatte noch Fragen gestellt, als seine Kameraden (und sogar seine Lehrer) sich längst langweilten. Er hatte sich erst losreißen können, als er zum fünften Mal ermahnt wurde, daß ihr Wagen gleich abfahren würde. Lunzie hatte keine Ahnung, wie er hieß.
»Sie waren jünger«, sagte sie langsam und nahm sich Zeit zum Überlegen. »An den Bart erinnere ich mich nicht.«
Seine Hände berührten ihn. »Ach, ja. Ich nehme an, das macht schon einen Unterschied. Außerdem ist es für Sie über vierzig Jahre her, auch wenn der Großteil davon keine reale Zeit war. Keine wache Zeit, meine ich. Ich war so froh, als Ihr Name auf den Tafeln erschienen ist. Ich nehme an, Sie haben nie erfahren, daß es diese Führung gewesen ist, die mich für den Arztberuf interessiert hat. Und die mich letztlich zum Korps der Verlorenen geführt hat …«
»Das freut mich«, sagte sie. Wie hieß er bloß? Er hatte damals ein großes, rechteckiges Namensschild getragen. Sie konnte sich an das grüne Schild und die schwarzen Buchstaben erinnern, aber nicht an den Namen.
»Jerik«, sagte er endlich und löste ihre Spannung. »Doktor Jerik heute, aber für Sie natürlich einfach Jerik. Ich bin Epidemiologe und muß mich zur Zeit in der Verwaltung herumschlagen, weil mein Chef in Urlaub ist.«
Er trug am Kragen die Nadel eines Studenten, der mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, und dazu einen winzigen Diamantanstecker, der ihn als Adepten auswies. Dergleichen gehörte nicht zu den Dingen, über die man redete, war aber ein deutlicher Hinweis darauf, daß er nicht einfach dummes Zeug daherredete. Seine Pose müßiger Geschwätzigkeit und unschuldiger Begeisterung war nicht mehr als das – eine Pose.
»Sie werden sich fragen«, sagte er, »warum Sie zum Korps der Verlorenen eingeladen worden sind, wo Sie doch eine vernünftige Ruhepause und Zeit brauchen, um Ihre Kenntnisse aufzufrischen.«
»Ja, durchaus«, sagte Lunzie. Er fürchtete offenbar, daß diese Sektion abgehört wurde, und es war durchaus möglich. Nur der ›Berg‹ war mit Sicherheit außer Reichweite jedes Schnüfflers.
»Es gehen einige interessante Dinge vor – und in Anbetracht der Erfahrungen, die Sie mit dem Kälteschlaf gemacht haben, könnten Sie genau die Person sein, die wir brauchen. Natürlich müssen Sie eine neue Zertifizierung erwerben …«
Lunzie zog eine Grimasse. »Ich verabscheue Instruktionsbänder …«
Er war voller Mitgefühl. »Ich weiß. Ich verabscheue sie auch – es ist so, als äße man drei Mahlzeiten in fünf Minuten. Das Gehirn fühlt sich wie vollgestopft an. Aber es ist die einzige Möglichkeit, wenn Sie nicht gerade zwei oder drei Jahre erübrigen können.«
»Nein. Sie haben Recht. Was werde ich brauchen?«
Was sie nach dreiundvierzig verlorenen Jahren brauchte, war weit mehr, als Mayerd auf Sassinaks Schiff ihr hatte geben können. Außerdem hatte sie Mayerds Angebot abgelehnt, sich mit Hilfe von Instruktionsbändern auf den neusten Stand bringen zu lassen. Neue chirurgische Verfahren und neue Instrumente lernte man nicht in einem Crashkurs mit Instruktionsbändern zu beherrschen. Dazu waren praktische Übungen im Operationssaal an ›Dummies‹ nötig, den furchterregend realistischen Androiden, die für die Ausbildung von Chirurgen eingesetzt wurden. Darüber hinaus benötigte sie Kenntnisse über neue Medikamente, über ihre Dosierung, Nebenwirkungen, Gegenanzeigen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Außerdem gab es neue Theorien über das menschliche Bewußtsein, die Aufschluß über die Auswirkungen des Kälteschlafs versprachen.
Einer der nützlichsten Aspekte ihrer gedrängten Neuausbildung, das erkannte Lunzie erst unterwegs, bestand darin, daß sie ihr einen ungewöhnlichen Überblick über den medizinischen Fortschritt und auch Rückschritt verschaffte. Am vierten Tag löste Lunzie ein diagnostisches Problem und wies darauf hin, daß man dieses Zusammentreffen von Symptomen vor nur fünfundvierzig Jahren und in zwei Sektoren Entfernung als Galles Krankheit bezeichnet hatte. Diese Krankheit war durch eine geschickte genetische Korrektur ausgerottet worden und nun in einem Gebiet, wo sich keiner mehr an sie erinnerte, neu aufgetreten.
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