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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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suchten nach mir, aber es war zu spät – ich war schon zu weit weggelaufen. Ein kalter Wind kam auf und sagte: ›Komm, kleiner Junge, schlaf in meinen weißen Tüchern‹, und ich dachte: Jetzt erfriere ich gleich . Ich rannte weg, um dem Wind zu entkommen, und ein Bergwerksschacht sagte: ›Komm, such Schutz in meiner Tiefe‹, und ich dachte: Jetzt stürze ich gleich in den Tod . Ich rannte auf das Feld, auf dem der Dreck und die Kranken abgeladen werden. Dort sagte ein Gespenst zu mir: ›Lass mich hinein, und ich wärme dich von innen‹, und ich dachte: Jetzt sterbe ich am Fieber. Dann kam ein Bär und sprach mit mir, aber ich verstand seine Sprache nicht. Ich rannte in den Wald, und der Bär folgte mir, und ich dachte: Jetzt werde ich gefressen. Der Bär nahm mich in seine starken Arme und drückte mich an seine Brust. Mit seinen großen Klauen kämmte er mir die Haare. Er tauchte seine Tatze in Honig und hielt sie mir an die Lippen. Dann sagte er: ›Jetzt wirst du lernen, wie man Bärisch spricht, und du wirst werden wie ein Bär, und dann bist du in Sicherheit.‹«
    Wir erkannten die Geschichte natürlich sofort. DiesesMärchen wird allen Waisenkindern erzählt; der Bär steht für Kim Jong Ils ewige Liebe. Unser Kommandant Ga war also ein Waisenkind. Wir schüttelten den Kopf. Es lief uns eiskalt den Rücken herunter, wie er die Geschichte erzählte, als handele sie wirklich von ihm und nicht von einer Märchenfigur. Als sei er selbst wirklich fast an Kälte, Hunger, Fieber und Unfällen im Bergschacht gestorben, als habe er selbst Honig von den Klauen des Geliebten Führers geschleckt. So stark ist die universelle Kraft des Geschichtenerzählens.
    »Meine Frage?«, sagte Ga.
    »Ja natürlich. Fragen Sie nur.«
    Kommandant Ga zeigte auf die Dose mit Pfirsichen, die auf dem Tisch neben seinem Bett stand. »Sind das meine Pfirsiche?«, fragte er. »Oder Ihre? Oder die von Genosse Buc?«
    Wir wurden sehr still und beugten uns vor.
    »Genosse Buc ist auch hier?«, fragten wir erstaunt.
    »Genosse Buc«, sagte Ga und schaute jedem von uns ins Gesicht, als seien wir Genosse Buc. »Vergib mir für das, was ich dir angetan habe. Das mit deiner Narbe tut mir leid.«
    Gas Blick wurde wieder diffus und sein Kopf fiel zurück aufs Kissen. Seine Haut fühlte sich klamm an, doch als wir nochmals Fieber maßen, war alles normal – Elektroschocks können die Regulierung der Körpertemperatur gewaltig durcheinanderbringen. Als wir sicher waren, dass es nur Erschöpfung war, winkte Jujack uns in die Zimmerecke, wo er uns etwas zuflüsterte.
    »Genosse Buc habe ich vorhin im Sumpf gesehen«, flüsterte Jujack aufgeregt. »Ich wusste nicht, dass er etwas mit diesem Fall hier zu tun hat.«
    Wir steckten Kommandant Ga eine brennende Zigarette zwischen die Lippen und machten uns bereit für einen weiteren Ausflug in das Loch unter dem Folterkeller.

ALS DIE VERNEHMUNGSBEAMTEN weg waren, lag Kommandant Ga im Dunkeln und rauchte. Beim Schmerztraining hatte er gelernt, sich eine innere Zuflucht zu schaffen, einen geheimen Ort, an den er sich in unerträglichen Augenblicken zurückziehen konnte. Ein solcher innerer Rückzugsort war wie ein geheimer Garten – man baute einen Zaun drum herum, passte auf, dass er unberührt blieb, vertrieb alle Eindringlinge, hegte und pflegte ihn. Niemand durfte je erfahren, in welche innere Landschaft man sich flüchtete. Denn wenn man seinen Rückzugsort preisgab, hatte man alles verloren.
    Wenn ihm im Bergwerk Felsbrocken die Hände zerquetschten oder ein Knüppel auf seinen Nacken niederging, dann versuchte er, sich zurück auf das sanft schaukelnde Deck der Junma zu versetzen. Wenn seine Finger von der beißenden Kälte taub wurden, versuchte er, sich in das Lied der Operndiva, in ihre Stimme hineinzuversetzen. Er versuchte, sich in das Gelb des Kleides der Frau des Zweiten Maats zu hüllen oder einen amerikanischen Quilt als Schutzmantel über den Kopf zu ziehen, doch all das funktionierte nur leidlich. Erst als er Sun Moons Film gesehen hatte, hatte er endlich seinen geheimen Rückzugsort gefunden – sie rettete ihn. Wenn er seine Spitzhacke in gefrorenes Gestein schlug, sprühte ihre Lebendigkeit aus den Funken. Wenn sich eine Wand aus Erzstaub durch einen Stollen wälzte, sodass er sich keuchend zusammenkrümmte, gab sie ihm neuen Atem. Als er einmal in eine unter Strom stehende Pfütze trat, kam Sun Moon und brachte sein Herz wieder zum Schlagen.
    Und so hatte er sich ihr auch an

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