Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
diesem Tag zugewandt, andem ihm der alte Pubjok den Heiligenschein aufgesetzt hatte. Schon bevor die Stellschrauben seine Kopfhaut berührten, hatte er sich von den Pubjok verabschiedet und erlebte von Neuem den Tag, an dem er Sun Moon zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. Er hätte nicht geglaubt, dass er ihr je in Fleisch und Blut begegnen würde – bis der Lagerkommandant die Wachsoldaten anwies, das Tor zu öffnen, er den Stacheldraht durchschritt und hörte, wie hinter ihm das Tor wieder zugeschoben wurde. Er trug die Uniform von Kommandant Ga, und in der Hand hielt er das Kästchen mit Fotografien, das Mongnan ihm ausgehändigt hatte. In der Tasche steckten seine lang gehüteten Schätze: der Fotoapparat und die DVD von Casablanca . Mit diesen Dingen gewappnet, schritt er durch den Matsch zum Wagen, der ihn zu ihr bringen würde.
Als er in den Mercedes stieg, drehte sich der Fahrer mit verstörtem Blick zu ihm um.
Kommandant Ga sah eine Thermoskanne auf dem Armaturenbrett stehen. Ein Jahr ohne Tee.
»Eine Tasse Tee könnte nicht schaden«, sagte er.
Der Fahrer rührte sich nicht. »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte er.
»Bist du homosexuell?«, gab Kommandant Ga zurück.
Der Fahrer starrte ihn fassungslos an und schüttelte nur den Kopf.
»Ganz sicher? Bist du getestet worden?«
»Ja«, sagte der Fahrer verwirrt, dann: »Nein.«
»Raus mit dir«, sagte Kommandant Ga. »Jetzt bin ich Kommandant Ga. Der andere existiert nicht mehr. Wenn du glaubst, dass du zu ihm gehörst, kann ich dich gern zu ihm bringen, oder zu dem, was noch von ihm übrig ist, unten im Schacht. Entweder bist du sein Fahrer oder meiner. Wenn dumein Fahrer bist, dann gießt du mir jetzt eine Tasse Tee ein, bringst mich irgendwohin, wo ich zivilisiert baden kann, und dann bringst du mich nach Hause.«
»Nach Hause?«
»Nach Hause zu meiner Frau, der Schauspielerin Sun Moon.«
Und dann war Ga auf dem Weg zu Sun Moon, dem einzigen Menschen auf der Welt, der ihm die Schmerzen nehmen konnte, die er auf dem Weg zu ihr erlitten hatte. Eine Krähe zog den Mercedes über die Schlammpisten des Gebirges, und Ga saß auf dem Rücksitz und sah das Kästchen durch, das Mongnan ihm mitgegeben hatte. Tausende von Bildern waren darin. Mongnan hatte die Ankunfts- und Exitus-Fotos der Häftlinge aneinandergeheftet. Tausende von Menschen, Rücken an Rücken, lebendig und tot. Er blätterte die Sammlung so durch, dass er die Exitusbilder vor sich hatte – lauter zermalmte, zerrissene, unnatürlich verrenkte Leichname. Er erkannte, wer Opfer eines Grubenunglücks geworden und wer totgeprügelt worden war. Auf manchen Fotos konnte man kaum noch etwas erkennen. Die meisten Toten sahen aus, als ob sie eingeschlafen wären; die Kinder hatten sich fest zusammengerollt, sie wurden fast immer von der Kälte erwischt. Mongnan war sehr gründlich gewesen, nichts fehlte in ihrem Karteikasten. Ga wurde klar, dass dieses Kästchen das war, was in seinem Land dem texanischen Telefonbuch am nächsten kam.
Er drehte es herum und hatte jetzt all die Ankunftsbilder vor sich, auf denen die Menschen ängstlich und unsicher in die Kamera blickten und noch nicht wirklich wahrhaben wollten, was für ein Albtraum ihnen bevorstand. Diese Fotos anzuschauen war fast noch unerträglicher. Als er schließlich sein eigenes Ankunftsfoto gefunden hatte, drehte er es nurzögernd herum; er erwartete ernsthaft, sich auf der Rückseite als Toten zu sehen. Das war aber nicht der Fall. Darüber staunte er eine Weile. Er beobachtete, wie im Vorbeifahren das Licht zwischen den Bäumen aufblitzte, und studierte die Bewegungen der Krähe vor ihnen: Wie die Abschleppkette schlaff rasselte, um sich dann wieder mit einem Ruck zu straffen. Er erinnerte sich an die fröhlich tanzenden Eierschalen auf der Ladefläche der Krähe, die ihn hergebracht hatte. Die Sterbenden auf den Pritschen um ihn herum waren auf seinem Foto nicht mit drauf. Auch nicht seine vom blutigen Eiswasser triefenden Hände. Nur die Augen – weit aufgerissen waren sie und weigerten sich dennoch ganz offensichtlich, das wahrzunehmen, was sich vor ihnen abspielte. Wie kindlich er wirkte; als sei er immer noch im Waisenhaus und glaube, ihm würde das Schicksal erspart bleiben, das allen Waisenkindern droht. Der Name, der mit Kreide auf die Schiefertafel in seinen Händen gemalt war, wirkte so fremd. Dies war das einzige Foto jenes Menschen – des Menschen, der er gewesen war. Langsam zerriss er
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