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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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es und ließ die Fetzen zum Fenster hinausflattern.
    Am Rand von Pjöngjang wurden sie von der Krähe abgekoppelt, und von den Mädchen im Koryo-Hotel bekam er Kommandant Gas gewohnte Behandlung – das lange Bad und die gründliche Reinigung, die Ga nach jedem Besuch im Bergwerk zuteil wurde. Seine Uniform wurde gewaschen und gebügelt, er wurde in einer großen Wanne gebadet, und die Mädchen schrubbten ihm die Blutflecken von den Händen und versuchten, seine Nägel in Form zu feilen. Wessen Blut das Schaumbad einfärbte, seines oder Kommandant Gas, war ihnen gleichgültig. Schwerelos im warmen Wasser liegend wurde ihm klar, dass sein Körper und sein Geist sich irgendwann im Laufe des letzten Jahres getrennt hatten, dass seinGeist verängstigt über seinem Körper geschwebt hatte, der es hoffentlich mit der Sturheit eines Maultiers ganz allein über den trügerischen Gebirgspass hinter Straflager 33 schaffen würde. Doch jetzt, als eine Frau ihm mit einem warmen Waschlappen an der Innenseite seines Fußes entlangstrich, durften wieder Empfindungen aufsteigen, sogar hinauf bis in sein Gehirn. Er durfte wieder etwas spüren, vergessene Teile seines Körpers von Neuem als ihm eigen erkennen. Seine Lunge war mehr als nur ein Blasebalg. Sein Herz, glaubte er auf einmal, konnte mehr als nur Blut pumpen.
    Er versuchte, sich die Frau vorzustellen, die er gleich treffen würde. Ihm war klar, dass die echte Sun Moon nicht so schön sein konnte wie die im Film: diese leuchtende Haut, dieses strahlende Lächeln. Und diese besondere Art, wie ihre Sehnsüchte sich in den Augenwinkeln einnisteten – das musste von der Projektion herrühren, irgendein Kinoeffekt. Er wollte ihr nah sein, keinerlei Geheimnisse vor ihr haben, wollte sich ihr vollkommen öffnen. Als er ihr Bild an der Wand des Lazaretts gesehen hatte, war es ihm so vorgekommen: Als stünden weder Schnee noch Kälte zwischen ihnen, als sei sie ihm ganz nah, eine Frau, die alles gegeben hatte, die ihre Freiheit hergeschenkt hatte und ins Straflager 33 gekommen war, um ihn zu retten. Es war ein Fehler gewesen, der Frau des Zweiten Maats erst in letzter Minute von den Ersatzehemännern zu erzählen, die sie erwarteten, das wusste Ga jetzt. Er würde kein Geheimnis zwischen sich und Sun Moon kommen lassen. Das war das Wunderbare an ihrer Beziehung: ein Neuanfang, die Gelegenheit, alles hinter sich zu lassen. Was der Kapitän über seine Frau gesagt hatte – wie es wäre, wenn er sie wiederhätte – das würde auch für ihn und Sun Moon gelten: Eine Zeitlang wären sie sich noch fremd, doch dann würde es eine Zeit der vorsichtigen Annäherung geben, und schließlich würde sich Liebe einstellen.
    Die Damen im Koryo-Hotel rieben ihn trocken und kleideten ihn an. Schließlich wählte er den Haarschnitt Nummer 7 – auch »Blitzkampf« genannt, das Markenzeichen des Kommandanten.
    Am späten Nachmittag erklomm der Mercedes das letzte Stück der steilen, ungeteerten Straße, die sich hoch zum Gipfel des Taesong schlängelte. Sie kamen am Botanischen Garten vorbei, an der nationalen Saatgutbank und an den Gewächshäusern, in denen die Mutterpflanzen der Kimilsungie und der Kimjongilie vermehrt wurden. Sie passierten den zu dieser Stunde bereits geschlossenen Zoo von Pjöngjang. Auf dem Rücksitz lagen ein paar von Kommandant Gas Sachen, unter anderem eine Flasche Rasierwasser, und er rieb sich schnell damit ein. So rieche ich also , dachte er. Er nahm Kommandant Gas Pistole in die Hand. Das ist also meine Pistole. Er zog den Schlitten ein wenig zurück, bis er sah, dass eine Patrone im Lauf steckte. Ich bin ein Mann, der immer schussbereit ist.
    Schließlich passierten sie einen Friedhof mit Bronzebüsten auf den Grabsteinen; orangerot leuchtete die Bronze im Abendlicht. Es war der Friedhof der Revolutionshelden. Sämtliche Waisenjungen des Landes wurden nach den 114 Märtyrern benannt, die allesamt umgekommen waren, bevor sie selbst Söhne zeugen konnten, und hier begraben lagen. Sie erreichten den Gipfel. Drei Häuser standen dort, in denen die Minister für Massenmobilmachung, für Gefängnisbergwerke und für Beschaffungswesen wohnten.
    Vor dem mittleren Haus hielt der Fahrer, und Ga durchschritt das niedrige Tor, um dessen Holzlatten sich Gurkenpflanzen und prächtige Melonenblüten rankten. Als er sich Sun Moons Tür näherte, merkte er, dass sich Schmerz wie ein Reifen um seine Brust legte: der Schmerz der Tintennadeln,die ihm der Kapitän unter die Haut gestochen

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