Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
aufgemacht«, sagte Sarge. »Er hat uns nichts verraten, gar nichts.«
Ungläubig starrte ich Sarge an.
Sarge sagte: »Wir haben ihm den Heiligenschein aufgesetzt. Aber er hat sich irgendwohin zurückgezogen, ganz weit weg, wo wir nicht an ihn herangekommen sind.«
Ich nickte und atmete tief durch, als ich verstanden hatte, was das hieß.
»Jetzt gehört Ga also uns. Sie haben Ihren Versuch gehabt«, sagte ich.
»Der Typ ist sowieso niemand«, sagte Sarge.
»Dieser Mist, den er über Duc Dan erzählt hat«, sagte ich. »Sie wissen genau, dass er nur lügt, weil er hofft, damit seine Haut zu retten. Duc Dan baut gerade Sandburgen in Wŏnsan.«
»Er wollte es einfach nicht zurücknehmen«, sagte Sarge. »Egal, wie viel Saft ich dem Arschloch aufs Hirn gegeben habe, er hat’s nicht zurückgenommen.« Sarge sah mir zum ersten Mal in die Augen. »Warum schreibt Duc Dan bloß nie? Nicht mal eine Postkarte – in all den Jahren hat nicht einer von ihnen seiner alten Pubjok-Mannschaft geschrieben.«
Ich steckte eine Zigarette an und reichte sie an Sarge weiter. »Versprechen Sie mir, dass Sie nie an die Abteilung zurückdenken werden, wenn Sie dann mal am Strand sitzen«, sagte ich zu ihm. »Außerdem dürfen Sie einen Häftling nie an sich rankommen lassen. Das haben Sie mir selbst beigebracht. Wissen Sie noch, wie naiv ich anfangs war?«
Sarge lächelte schwach. »Bist du immer noch«, sagte er.
Ich klopfte ihm auf die Schulter und tat so, als würde ich gegen den Stahlrahmen der Tür boxen.
Sarge schüttelte den Kopf und lachte.
»Wir kriegen den Kerl schon noch«, tröstete ich ihn und ging.
So schnell war ich die zwei Treppen noch nie hochgerannt.
»Der Fall ist noch nicht erledigt!«, rief ich, als ich zur Tür hereinplatzte.
Das Team war erst bei der zweiten Zigarette. Alle blickten erstaunt zu mir auf.
»Die haben nichts aus ihm rausgeholt. Er gehört uns!«, jubelte ich.
Wir sahen Kommandant Ga an, der mit herabhängendem Unterkiefer dalag, nutzlos wie eine Litschi.
Leonardo zündete sich trotz der Rationierung zur Feier des Tages seine dritte Zigarette an. »Wir haben ein paar TageZeit, bis er wieder voll da ist. Hoffentlich hat er keine Erinnerungslücken«, sagte er. »In der Zwischenzeit sollten wir ein paar Spuren sichern, das Haus der Schauspielerin durchsuchen – mal sehen, was wir dort alles finden.«
Jujack hatte eine Idee. »Warum bringen wir nicht einfach Mongnan her, stellen ihr ein zweites Bett hier rein und schneiden eine Woche lang alles mit? Ich wette, da würde alles rauskommen.«
In diesem Augenblick schien uns auch Kommandant Ga wieder zu bemerken. »Mongnan ist tot«, sagte er.
»Bestimmt nicht«, beruhigten wir ihn. »Es geht ihr sicher bestens.«
»Nein«, erwiderte er. »Ich habe ihren Namen gesehen.«
»Und wo?«, fragten wir ihn erstaunt.
»Auf dem Zentralrechner.«
Wie eine Familie saßen wir alle im Kreis um Kommandant Ga herum. Eigentlich sollen wir ihm nichts verraten, aber wir taten es trotzdem. »Den Zentralrechner gibt es nicht. Das ist nur ein Trick von uns, damit Häftlinge uns wichtige Informationen verraten. Wir sagen ihnen, auf dem Rechner sei der Aufenthaltsort jedes Bürgers von Nord- und Südkorea verzeichnet. Als Belohnung dafür, dass sie ihre Geschichte erzählen, dürfen sie die Namen von Menschen eingeben, die sie wiederfinden möchten. Verstehen Sie, Kommandant Ga? In dem Rechner sind keine Adressen. Darauf werden nur die eingetippten Namen gespeichert, damit wir wissen, wer dem Häftling wichtig ist – dann können wir die auch verhaften.«
Man hatte den Eindruck, als käme Ga ein wenig zu sich und verstünde vielleicht sogar etwas von dem, was wir sagten.
»Meine Frage«, sagte er.
Wir schuldeten ihm die Antwort auf eine Frage.
Auf der Akademie hatten wir einen Merkspruch zur Elektroschocktherapie gelernt: »Elektrizität verschließt das Dachstübchen, macht aber die Kellertür auf.« Das bedeutet, dass sie das Kurzzeitgedächtnis eines Menschen stört, tiefliegende Erinnerungen aber intakt und erstaunlich leicht zugänglich bleiben. Vielleicht bot sich hier ja eine Gelegenheit. Zu wählerisch durften wir nicht sein.
»Erzählen Sie uns Ihre älteste Erinnerung«, sagten wir, »dann können Sie Ihre Frage stellen.«
Ga fing in dem apathischen Tonfall eines Zombies an:
»Ich war ein kleiner Junge«, erzählte er. »Ich ging in den Wald und verlief mich. Meine Eltern waren Träumer und merkten nicht, dass ich verschwunden war. Sie
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