Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
keine Filme an – die würden die Reinheit meiner Schauspielkunst zerstören.« Sie lag auf dem Rücken im Gras und rauchte nachdenklich. »Und Sie haben wirklich nichts mit dem Studio zu tun?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Wie ungeschützt sie da vor ihm lag, wie unschuldig – wie konnte sie in dieser brutalen Welt bestehen?
»Und, was sind Sie dann? Ein neuer Lakai meines Mannes? Der mich aushorchen soll, während er selbst in geheimer Mission unterwegs ist? Ich weiß Bescheid über seine Geheimmissionen – nur er ist tapfer genug, ein Bordell in Manp'o zu infiltrieren, nur der große Kommandant Ga kann eine Woche am Kartentisch in Wladiwostok überleben.«
Er ging neben ihr in die Hocke. »Oh nein. Du urteilst zu streng. Er hat sich verändert. Natürlich hat er Fehler begangen, und die bedauert er. Aber von jetzt an zählst nur noch du. Er betet dich an, das weiß ich genau. Er liegt dir zu Füßen.«
»Sagen Sie ihm, dass ich es nicht mehr aushalte. Wenn Sie das bitte übermitteln könnten.«
»Das bin ich jetzt«, sagte er. »Du kannst es ihm also direkt sagen.«
Sie seufzte tief auf und schüttelte den Kopf. »So, Sie wollen also Kommandant Ga sein, ja? Wissen Sie eigentlich, was er mit Ihnen machen würde, wenn er das hören würde? Seine Taekwondo-›Lektionen‹ sind nicht gestellt, wissen Sie. Er hat sich jeden in der Stadt zum Feind gemacht. Deswegen bekomme ich auch keine Rollen mehr. Kann man sich nicht einfach mal beim Geliebten Führer entschuldigen? Es kann doch nicht so schwer sein, sich in der Oper vor ihm zu verneigen. Würden Sie meinem Mann das bitte von mir ausrichten? Mehr wäre nicht nötig, eine einzige kleine öffentliche Geste, und der Geliebte Führer würde alles vergeben.«
Er streckte die Hand aus, um ihr die Tränen abzuwischen, aber sie wich ihm aus.
»Sehen Sie die Tränen in meinen Augen?«, fragte sie. »Können Sie meinem Mann von diesen Tränen berichten? Er soll auf keine Missionen mehr gehen. Sagen Sie ihm, er soll keine Lakaien mehr schicken, die auf mich aufpassen.«
»Das weiß er schon«, erwiderte er. »Und es tut ihm leid. Dürfte er vielleicht um einen Gefallen bitten? Es würde ihm so viel bedeuten.«
Auf dem Rasen liegend drehte sie sich auf die Seite, sodass ihr Busen unter dem Hausmantel wogte, Rotz lief ihr aus der Nase. »Gehen Sie weg«, sagte sie.
»Das kann ich leider nicht«, sagte er. »Ich sagte ja schon:Es war eine lange Reise, und ich bin ja gerade erst angekommen. Es ist ein sehr kleiner Gefallen, um den ich bitten möchte, wirklich, eine Kleinigkeit für eine große Schauspielerin wie dich. Erinnerst du dich an die Stelle in Eine wahre Tochter des Vaterlands , wo du die vom sinkenden Schlachtschiff Koryo in Flammen gesetzte Straße von Inch'o˘n überqueren musst, um nach deiner Schwester zu suchen? Als du ins Wasser watest, bist du noch ein einfaches Fischermädchen aus Jeju, aber nachdem du das vom Patriotenblut rot gefärbte Wasser durchschwommen hast, entsteigst du ihm als Soldatin. In der Hand hältst du eine halb verbrannte Flagge, und dann sagst du etwas. Würdest du den Satz wohl für mich sprechen?«
Sie sagte nichts, aber er meinte, die Worte in ihren Augen zu lesen: Es gibt eine höhere Liebe, die uns aus den niedersten Orten hinaufzieht in luftige Höhen . Ja, die Worte standen in ihrem Blick geschrieben, daran erkannte er die wahre Schauspielerin – der Gesichtsausdruck, der alle Worte überflüssig macht.
»Spürst du denn nicht, dass es so richtig ist? Dass alles anders werden wird?«, fragte er. »Als ich im Lager war ...«
»Im Lager?«, fragte sie und richtete sich auf. »Woher kennen Sie meinen Mann nun eigentlich genau?«
»Ihr Mann hat mich heute Morgen angegriffen«, sagte er. »Wir waren in einem Stollen im Straflager 33, und ich habe ihn umgebracht.«
Sie sah ihn verwirrt an. »Was?«
»Ich meine, ich glaube, dass ich ihn umgebracht habe. Es war dunkel, deswegen bin ich mir nicht sicher, aber meine Hände wissen, was sie zu tun haben.«
»Ist das einer von seinen Tests?«, fragte sie. »Wenn ja, dann ist das der perverseste, den er sich je ausgedacht hat. Sollen Sie berichten, wie ich auf die Nachricht reagiert habe,ob ich ein Freudentänzchen aufgeführt oder mich vor Kummer aufgeknüpft habe? Ich kann’s kaum glauben, dass er derart tief gesunken ist. Im Grunde ist er ein Kind, ein verängstigter kleiner Junge. Nur so jemand würde die Vaterlandstreue einer alten Frau im Park überprüfen. Nur ein
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