Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Kommandant Ga auf den ersten Blick.
»Ein wenig einsam hier unten«, bemerkte er.
»Aber nein, sag doch nicht so was«, erwiderte der Geliebte Führer, ohne sich umzudrehen. »Du hast doch mich!«
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Ga. »Kommen Sie auch allein hierher?«
Der Geliebte Führer blieb vor einer Tür stehen und zog einen einzelnen Schlüssel aus der Tasche. Lächelnd sah er Kommandant Ga an. »Ich bin nie allein«, sagte er und öffnete die Tür.
In der Zelle saß eine große, dünne Frau, der die dunklen Haare ungepflegt ins Gesicht hingen. Vor ihr ausgebreitet lagen Bücher, und sie schrieb im Licht einer Lampe, deren Kabel in einem Loch in der Betondecke verschwand. Schweigend blickte sie zu ihnen auf.
»Wer ist das?«, fragte Kommandant Ga.
»Frag sie doch selbst. Sie spricht Englisch«, antwortete der Geliebte Führer und wandte sich der Frau zu. » You bad girl «, sagte er mit einem Riesengrinsen auf dem Gesicht. »Bad, bad, bad girl.«
Ga ging vor ihr in die Hocke, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. »Wer sind Sie?«, fragte er auf Englisch.
Sie sah die Pistole an seiner Hüfte und schüttelte den Kopf, als könne ihr eine Antwort nur schaden.
Ga erkannte in den Büchern, über denen die Frau saß, die englische Ausgabe der elfbändigen Gesammelten Werke von Kim Jong Il . Handschriftlich, Wort für Wort, übertrug sie diese in ganze Stapel von Notizbüchern. Als er den Kopf schräg legte, sah er, dass sie Lehrsätze aus Band 5 abschrieb: Über die Filmkunst .
» Die Schauspielerin darf die Rolle nicht spielen «, las Ga. » Wie eine Märtyrerin muss sie sich opfern und selbst zu der dargestellten Person werden. «
Der Geliebte Führer lächelte wohlwollend beim Klang der von ihm verfassten Worte. »Sie ist eine gelehrige Schülerin«, sagte er.
Der Geliebte Führer gab ihr ein Zeichen, dass sie eine Pause machen dürfe. Sie legte den Bleistift hin und rieb sich die Hände. Ga beugte sich näher zu ihr vor.
»Dürfte ich einmal Ihre Hände sehen?«, fragte er auf Englisch.
Er streckte ihr zur Verdeutlichung seine eigenen mit nach oben gedrehten Handtellern entgegen.
Langsam öffnete sie ihre Hände. Sie waren mit schrundigen, grauen Schwielen überzogen, selbst an den Fingerspitzen war Hornhaut. Kommandant Ga schloss die Augen und nickte in Anerkennung Tausender an den Riemen verbrachter Stunden, von denen diese Hände zeugten.
Er blickte hoch zum Geliebten Führer. »Wie kommt sie hierher?«, fragte er. »Wo haben Sie das Mädchen gefunden?«
»Sie wurde von einem Fischerboot aufgenommen«, antwortete der Geliebte Führer. »Sie saß ganz allein in einem Ruderboot, mutterseelenallein. Sie hat ihrer Freundin etwas Schlimmes angetan, etwas ganz, ganz Schlimmes. Der Kapitän hat sie gerettet und das Ruderboot angezündet.« Genüsslich drohte der Geliebte Führer dem Mädchen mit dem Zeigefinger. »Bad girl, bad« , sagte er. »Aber wir verzeihen ihr. Was vorbei ist, ist vorbei. So etwas kommt vor, da kann man nichts machen. Und, glaubst du nicht auch, dass die Amerikaner jetzt kommen werden? Glaubst du nicht auch, dass der Senator es bereuen wird, dass er meine Abgesandten dazu gezwungen hat, unter freiem Himmel inmitten von Hunden mit den Fingern zu essen?«
»Wir brauchen eine ganze Reihe spezieller Gegenstände«, antwortete Kommandant Ga. »Unsere Willkommensfeier für die Amerikaner kann nur gelingen, wenn Genosse Buc mir hilft.«
Der Geliebte Führer nickte.
Kommandant Ga wandte sich wieder der Frau zu. »Ich habe gehört, dass Sie mit den Walhaien gesprochen und beim Schein der Quallen die Karten gelesen haben.«
»Es ist nicht so, wie die behaupten«, antwortete sie. »Sie war wie meine Schwester, und jetzt bin ich allein, jetzt bin nur noch ich da.«
»Was sagt sie?«, fragte der Geliebte Führer.
»Sie sagt, dass sie einsam ist.«
»Unsinn«, entgegnete der Geliebte Führer. »Ich bin ständig hier unten. Ich leiste ihr Gesellschaft.«
»Sie haben versucht, unser Boot zu entern«, fuhr sie fort. »Linda, meine Freundin, hat mit der Signalpistole auf sie geschossen. Wir hatten sonst nichts, womit wir uns verteidigen konnten. Aber sie ließen nicht locker, sie haben sie erschossen, vor meinen Augen. Sagen Sie mir: Wie lange bin ich schon hier unten?«
Kommandant Ga zog seinen kleinen Fotoapparat aus der Tasche. »Darf ich?«, fragte er den Geliebten Führer.
»Oh, Kommandant Ga«, sagte der Geliebte Führer kopfschüttelnd. »Du und deine Fotos. Wenigstens
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