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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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die?«
    »Die sind leider nicht mehr zu erreichen«, antwortete der Geliebte Führer. »Der Mann, von dem ich spreche, ist gegenwärtig der Einzige in unserem Land, der an dieser Mission beteiligt war.« Der Geliebte Führer hatte gefunden, wonach er suchte – einen großen Revolver. Er hielt ihn auf Kommandant Ga gerichtet.
    »Ach, ja, jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Ga, den Blick auf die Pistole geheftet. »Genau, der Waisensoldat. Ein schlanker, gutaussehender Mann, klug und humorvoll. Ja, der war im Straflager 33, richtig.«
    »Du kennst ihn also?«
    »Ja, wir haben uns oft bis spät in die Nacht unterhalten. Wie zwei Brüder waren wir, er hat mir alles erzählt.«
    Der Geliebte Führer händigte Ga den Revolver aus. »Erkennst du den wieder?«
    »Das sieht wie der Revolver aus, den der Waisensoldat mir beschrieben hat. Damit haben sie in Texas Dosen vom Zaungeschossen. Ich meine, das wäre eine Kaliber 45 Smith & Wesson gewesen.«
    »Ah, du kennst ihn also doch. Jetzt machen wir Fortschritte. Aber sieh genauer hin: Dieser Revolver stammt aus Nordkorea. Er wurde von unseren Ingenieuren konstruiert und ist ein Kaliber 46, etwas größer, etwas mehr Durchschlagskraft als das amerikanische Modell – glaubst du, das wird sie beschämen?«
    Als Kommandant Ga den Revolver näher untersuchte, sah er, dass die Teile von Hand auf einer Drehbank gefertigt worden waren – am Lauf und an der Trommel befanden sich kleine Einkerbungen, die der Schmied zum Ausrichten der Einzelteile angebracht hatte. »Das wird es ganz sicherlich, Geliebter Führer. Ich würde nur noch hinzufügen wollen, dass der amerikanische Revolver, wie ihn mir mein Freund, der Waisensoldat, beschrieb, kleine Einkerbungen am Hahn hatte, und der Griff war nicht aus Perlmutt, sondern aus geschnitztem Horn vom Rotwild.«
    »Ah«, sagte der Geliebte Führer. »Genau solche Details suchen wir, haargenau.« Aus einem anderen Karton holte er einen handgeprägten Revolvergurt im Wild-West-Stil heraus, der tief auf der Hüfte saß. Er legte ihn Kommandant Ga selbst um. »Die Munition ist noch nicht fertig«, erläuterte der Geliebte Führer. »Daran arbeiten die Ingenieure noch, eine Patrone nach der anderen. Aber du darfst den Revolver schon mal tragen, schon mal das Gefühl dafür bekommen. Oh ja, die Amerikaner sollen sehen, dass wir ihre Waffen genauso gut herstellen können wie sie, nur größer und stärker. Wir werden ihnen amerikanischen Maiskuchen vorsetzen, und sie werden schmecken, dass der koreanische Mais nahrhafter ist und der Honig von koreanischen Bienen süßer. Ja, sie werden mir den Rasen schneiden, und sie werden die widerlichenCocktails trinken, die ich mir für sie ausdenke, und du, Kommandant Ga, du wirst uns helfen, ein ganzes potemkinsches Texas zu errichten, hier in Pjöngjang.«
    »Aber Geliebter Füh...«
    »Die Amerikaner«, fuhr der voller Zorn dazwischen, »werden ihre Betten mit den Hunden aus dem Zoo teilen!«
    Kommandant Ga wartete einen Augenblick. Erst als er sicher war, dass sich der Geliebte Führer verstanden wusste, sagte er: »Jawohl, mein Geliebter Führer. Sagen Sie mir nur, wann die Amerikaner kommen.«
    »Wann wir es wünschen«, antwortete der Geliebte Führer. »Wir haben sie noch nicht eingeladen.«
    »Als ich dem Lager einmal einen Besuch abstattete, erzählte mir mein Freund, der Waisensoldat, die Amerikaner seien sehr unwillig, mit uns in Kontakt zu treten.«
    »Keine Sorge, die Amerikaner werden kommen«, entgegnete der Geliebte Führer. »Und sie werden mir zurückgeben, was sie mir gestohlen haben. Und sie werden gedemütigt werden. Und dann werden sie mit leeren Händen heimgehen.«
    »Wie das?«, fragte Ga. »Wie werden Sie sie herlocken?«
    Jetzt lächelte der Geliebte Führer. »Das ist das Schönste an der ganzen Sache«, frohlockte er.
    Er führte Ga ans Ende des gewundenen Gangs zu einer Treppe. Auf Metallstufen stiegen sie mehrere Stockwerke hinab, was dem Geliebten Führer ein wenig Mühe zu machen schien. Schon bald lief Wasser an den Wänden herab, und das Eisengeländer war wackelig und verrostet. Als Kommandant Ga sich darüber beugte und nach unten blickte, um zu sehen, wie weit hinunter die Stufen reichten, war dort nichts als Echos und Finsternis. Auf einem Absatz machte der Geliebte Führer Halt und öffnete die Tür zu einem Gang, der ganzanders als die oberen Flure aussah. Hier befand sich in jeder fest verriegelten Tür ein kleines, vergittertes Fenster. Ein Gefängnis erkannte

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