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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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fragte sich nur, wie sie diesen letzten Tag wohl verbringen würde, wenn sie wüsste, dass er zu ihr unterwegs war.
    Als sie in den Hafen von Bandaijima einliefen, war es später Vormittag. An den Zollstationen wehten die Flaggen der verschiedenen Länder. Große, UNICEF-blaue Frachtschiffe wurden an den Docks mit Reis beladen. Jun Do und Gil hatten gefälschte Pässe und gingen in Polohemden, Jeans und Markenturnschuhen die Gangway hinab. Sonntag in Niigata.
    Auf dem Weg zur Konzerthalle sah Jun Do einen Jumbojet, der einen langen Kondensstreifen hinter sich herzog. Mit verrenktem Hals starrte er in den Himmel – unglaublich. So unglaublich, dass er beschloss so zu tun, als sei alles normal: die bunten Lichter, die den Verkehr steuerten, oder die Omnibusse, die wie Ochsen in die Knie gingen, wenn alte Leute einsteigen wollten. Wie zu erwarten, konnten die Parkuhrensprechen, und die Türen der Geschäfte öffneten sich, wenn man an ihnen vorbeiging. Natürlich gab es auf den Toiletten kein Wasserfass und keinen Schöpflöffel.
    In der Matinee wurde ein Potpourri aus verschiedenen Opern dargeboten, die das Ensemble für die kommende Saison einstudiert hatte; die Sänger wechselten sich mit kurzen Arien auf der Bühne ab. Gil schien die Stücke zu kennen und summte mit. Rumina – klein und breitschultrig – kam in einem anthrazitgrauen Kleid auf die Bühne. Dunkel lagen ihre Augen unter dem sehr gerade geschnittenen Pony. Sie wusste, was Traurigkeit war, das sah man, auch wenn sie nicht ahnen konnte, dass ihr die größten Prüfungen noch bevorstanden. An diesem Abend, direkt nach Einbruch der Dunkelheit, würde ihr eigenes Leben zur Oper werden; Jun Do war die finstere Gestalt am Ende des ersten Akts, der die Heldin in ein Land der Wehklagen verschleppen würde.
    Sie sang erst auf Italienisch, dann auf Deutsch, dann auf Japanisch. Als sie schließlich auf Koreanisch sang, war klar, warum Pjöngjang sie auserwählt hatte. Mit heller, klarer Stimme erzählte sie von einem Liebespaar auf einem See, und das Lied handelte nicht vom Geliebten Führer oder dem Sieg über die Imperialisten oder der Quotenübererfüllung einer nordkoreanischen Fabrik. Es handelte von einem Mädchen und einem Jungen in einem Boot. Das Mädchen trug einen weißen Chosŏnot, und in den Augen des Jungen lag Schwermut.
    Rumina sang auf Koreanisch, und ihr Kleid war anthrazitgrau, und sie hätte genauso gut das Lied einer Spinne singen können, die ihre Zuhörer mit ihren weißen Fäden umgarnt. Dieses Spinngewebe hielt Jun Do und Gil selbst dann noch gefangen, als sie ziellos durch die Straßen von Niigata liefen und sich arglos gaben, als hätten sie nicht die böse Absicht,Rumina aus der nahe gelegenen Künstlersiedlung zu entführen. Einer der Liedverse wollte Jun Do nicht aus dem Kopf gehen: Wie das Liebespaar in der Mitte des Sees beschließt, nicht mehr weiterzurudern.
    Wie in Trance liefen sie durch die Stadt und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Besonders die Werbung interessierte Jun Do. In Nordkorea war Werbung unbekannt, und hier war sie überall, an den Bussen, auf Plakaten und an Videowänden. Sie sprang einem entgegen, flehentlich geradezu – ein Paar, das sich aneinanderklammerte, ein trauriges Kind –, und bei jedem Plakat fragte er Gil, was darauf stand, aber es ging immer nur um Autoversicherungen und Mobilfunkgebühren. Hinter einer Fensterscheibe sahen sie koreanische Frauen, die japanischen Frauen die Fußnägel schnitten. Zum Spaß probierten sie einen Automaten aus, der eine Tüte orangefarbene Snacks ausspuckte, die aber keiner von beiden probieren mochte.
    Gil blieb vor einem Laden stehen, der Taucherausrüstungen verkaufte. Im Schaufenster lag ein großer Sack, in dem man sein gesamtes Equipment verstauen konnte. Er war aus schwarzem Nylon, und der Verkäufer führte ihnen vor, dass alles hineinpasste, was man für ein Unterwasserabenteuer zu zweit benötigte. Sie kauften den Sack.
    Sie fragten einen Mann, ob sie seinen Einkaufswagen kurz borgen könnten, und er sagte ihnen, dass sie sich im Supermarkt selbst einen besorgen könnten. Im Laden war es fast unmöglich festzustellen, was sich in den Packungen und Kartons befand. Die wichtigsten Sachen – wie Körbe voller Rettich und Eimer voller Esskastanien – waren nirgends zu sehen. Gil kaufte eine Rolle kräftiges Klebeband und in der Spielzeugabteilung einen kleinen Malkasten aus Metall. Wenigstens hatte Gil jemanden, dem er ein Andenken mitbringen

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