Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Steinen ein. Jun Do wusste nicht, wonach er greifen sollte. Auf einem Tisch lagen Arzneifläschchen, Kosmetika, ein Stapel Familienfotos. Als sein Blick an dem anthrazitgrauen Kleid hängen blieb, zog er es vom Bügel.
»Was soll der Scheiß?«, fragte Gil.
»Ich weiß auch nicht«, erwiderte Jun Do.
Der überladene Einkaufswagen ratterte laut über die Ritzen im Bürgersteig. Die beiden sprachen nicht. Gil war zerkratzt, sein Hemd zerrissen. Sein Gesicht sah aus wie mit Make-up verschmiert. Aus der offenen Wunde, an der seine Haare fehlten, suppte eine durchsichtige, gelbe Flüssigkeit. Wo der Beton des Gehsteigs an den Straßeneinmündungen abgeschrägt war, verdrehten die Räder sich seltsam, und die Ladung kippte auf das Pflaster.
Am Straßenrand waren Altpapierbündel aufgereiht. Küchenhilfen spritzten über den Gullys Gummimatten ab. Ein grell erleuchteter, leerer Bus rauschte vorbei. In der Nähe des Parks führte ein Mann einen großen, weißen Hund aus, der stehenblieb und sie beäugte. Ab und zu wand der Sack sich, um dann wieder ruhig zu werden. An einer Ecke sagte Gil, hier müssten sie nach links abbiegen, und dort, einen steilen Hang hinunter und über einen Parkplatz hinweg, lag der Strand.
»Ich pass auf, dass uns niemand folgt«, sagte Gil.
Der Einkaufswagen kam ins Rollen – Jun Do hielt den Griff doppelt so stark fest. »Ist gut«, sagte er.
Hinter ihm erklärte Gil: »Vorhin, das, was ich über die Waisen gesagt habe. Das war nicht so gemeint. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, wenn man keine Eltern mehr hat oder sie den Mut verloren haben. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Macht nichts«, entgegnete Jun Do. »Ich bin kein Waise.«
Hinter ihm sagte Gil: »Erzähl mir, wie du deinen Vater zum letzten Mal gesehen hast.«
Der Wagen wollte immer wieder ausbrechen. Jedes Mal musste sich Jun Do mit seinem ganzen Gewicht zurücklehnen; trotzdem schlitterte er mit den Füßen übers Pflaster. »Na, eine Abschiedsparty gab’s jedenfalls nicht.« Der Wagen machte einen Satz nach vorn und schleifte Jun Do mehrere Meter hinter sich her, bis er wieder Boden unter die Füße bekam. »Ich war länger da gewesen als alle anderen – ich bin nie adoptiert worden, mein Vater hat nicht zugelassen, dass ihm jemand seinen einzigen Sohn wegnimmt. Na, jedenfalls ist er in der Nacht zu mir gekommen, die Betten hatten wir verbrannt, ich lag auf dem Boden – Gil, du musst mir helfen!«
Auf einmal tobte der Einkaufswagen davon. Jun Do stolperte, ließ los, und der Wagen raste allein den Abhang hinunter. »Gil«, schrie er. Der Wagen schlingerte über den Parkplatz, und als er am anderen Ende gegen den Bordstein stieß, machte er einen Satz in die Luft und beförderte den schwarzen Sack hinaus in den dunklen Sand.
Jun Do wandte sich um, aber Gil war nirgendwo zu sehen.
Er rannte zum Strand, vorbei am Sack, der seltsam verdreht dalag, und bis zum Wasser. Er suchte die Wellen ab nach Offizier So, sah aber nichts. Er fühlte in seinen Taschen – er hatte keine Karte, keine Uhr, kein Licht. Mit den Händen aufden Knien mühte er sich verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen. Das anthrazitgraue Kleid wehte an ihm vorbei, den Strand hinunter, blähte sich im Wind auf, wirbelte über den Sand, bis die Nacht es verschluckte.
Er ging zurück zum Sack und rollte ihn herum. Als er den Reißverschluss aufzog, schlug ihm Hitze entgegen. Er zog Rumina den Klebestreifen vom Gesicht. Es war von Abschürfungen verunstaltet. Sie sagte etwas auf Japanisch zu ihm.
»Ich verstehe nicht«, sagte er.
Auf Koreanisch sagte sie: »Gott sei Dank, dass Sie mich gerettet haben.«
Er betrachtete ihr Gesicht. Wie aufgeschürft und geschwollen es war.
»Irgendein Psychopath hat mich hier reingesteckt«, fuhr sie fort. »Gott sei Dank sind Sie vorbeigekommen. Ich dachte, ich müsste sterben, und jetzt sind Sie da, um mich zu befreien.«
Jun Do blickte sich noch einmal gründlich nach Gil um, obwohl er wusste, dass es zwecklos war.
»Danke, dass Sie mich hier rausholen«, sagte sie. »Ich bin so froh, dass Sie mich befreien.«
Jun Do testete den Klebestreifen mit den Fingern; er hatte schon viel von seiner Klebkraft eingebüßt. Eine Haarsträhne hing daran fest. Er ließ sie im Wind davonflattern.
»O nein«, flüsterte sie. »Sie sind einer von denen.«
Sand wehte in den Sack und ihr in die Augen.
»Glauben Sie mir«, antwortete er. »Ich weiß, was Sie durchmachen.«
»Sie müssen kein schlechter Mensch sein«, redete sie
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