Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
hielt ihr das Blatt an die Lippen. »Mund auf«, befahl er. Als sie seiner Aufforderung nicht folgte, wurde er gröber. »Aufmachen!« Ihre Lippen teilten sich und ließen das Blütenblatt hinein. Mit feuchtem Blick sah sie zu ihm auf. Und während sie langsam, ganz langsam, zu kauen begann, flossen ihre Augen über.
BÜRGER , versammelt euch in euren Küchen und Büros um die Lautsprecher für die nächste Folge der Besten Nordkoreanischen Kurzgeschichte des Jahres! Bei unserer letzten Begegnung mit dem feigen Kommandanten Ga erhielt er eine Taekwondo-Lektion vom Geliebten Führer persönlich! Lasst euch von der feschen Uniform und dem adrett gescheitelten Haar des Kommandanten nicht täuschen – er ist eine tragische Figur, die noch sehr, sehr tief fallen muss, bevor von Erlösung auch nur die Rede sein kann.
Doch zunächst fuhr unser glamouröses Paar nach einem opulenten Fest zu später Stunde durch Pjöngjang, während in einem Stadtteil nach dem anderen die Stromschalter in den Umspannwerken umgelegt wurden und unsere liebliche Stadt in wohlverdienten Schlaf sinken ließen. Kommandant Ga lenkte den Wagen, und Sun Moon lehnte sich in die Kurven.
»Das mit deinem Film tut mir leid«, sagte er.
Sie gab keine Antwort. Ihr Blick war auf die Gebäude gerichtet, die nach und nach in der Dunkelheit verschwanden.
Er sagte: »Du kannst einen neuen machen.«
Sie durchwühlte ihre Tasche und machte sie dann frustriert wieder zu.
»Mein Mann hat immer dafür gesorgt, dass mir die Zigaretten nicht ausgehen. Das ist noch nie vorgekommen«, sagte sie. »Er hatte irgendein Versteck für die Stangen. Und jeden Morgen lag eine neue Schachtel unter meinem Kopfkissen.«
Die Lichter im P'yŏngch'ŏn-Viertel mit seinen Garküchen erloschen, während sie hindurchfuhren, und eins, zwei, dreiversanken auch die Wohnblocks an der Haebangsan-Straße in Finsternis. Schlaf gut, Pjöngjang. Du hast es dir verdient. Keine andere Nation schlummert so süß wie Nordkorea. Wenn das Licht ausgeht, ertönt in Millionen Haushalten ein kollektives, zufriedenes Seufzen, und gleich darauf sinken Millionen Köpfe auf die Kissen. Wenn die unermüdlichen Generatoren für die Nacht heruntergefahren werden und ihre rotglühenden Turbinen sich langsam abkühlen, dann leuchten keine einsamen Lichter mehr durch die Nacht, kein Kühlschrank brummt mehr vor sich hin. Unsere Nächte gehören einzig und allein dem erquicklichen Schlaf und großen Träumen von erfüllten Planvorgaben und dem Freudentaumel der Wiedervereinigung. Der Amerikaner hingegen ist hellwach. Wenn man ein nächtliches Satellitenfoto dieser wirren Nation betrachtet, sieht man einen einzigen riesigen Lichtschwaden: der beste Beweis für ihren trägen Müßiggang am Abend. Die faulen, unmotivierten Amerikaner sind bis spät in die Nacht wach und stillen ihre selbstsüchtigen Gelüste durch Fernsehen, Homosexualität und Religion.
Die beiden erreichten den Fuß des Berges und fuhren schon bald am Zoo vorbei, wo die sibirischen Tiger des Geliebten Führers zu bewundern sind, direkt neben dem Gehege mit den sechs Hunden, allesamt Geschenke des ehemaligen Königs von Swasiland. Die Hunde werden ausschließlich mit überreifen Tomaten und Kimchi gefüttert, um die Gefahr zu mindern, die für gewöhnlich von diesen Tieren ausgeht. Doch sie werden im Nu wieder zu Fleischfressern, sollten die Amerikaner zu Besuch kommen!
Im Scheinwerferlicht erblickten sie einen Mann, der mit einem Straußenei in den Händen aus dem Zoo gerannt kam. Zwei Wachmänner mit Taschenlampen jagten ihn den Berg hinauf.
»Gilt dein Mitgefühl dem Mann, der so hungrig ist, dass er stiehlt?«, fragte Kommandant Ga Sun Moon. »Oder den Männern, die ihn fangen müssen?«
»Sind nicht die Straußenvögel die Leidtragenden?«, fragte Sun Moon zurück.
Sie kamen am Friedhof vorbei, der ebenso im Dunkeln lag wie der Vergnügungspark, dessen Gondeln tiefschwarz vor dem dunkelblauen Nachthimmel hingen. Nur im Botanischen Garten brannte noch Licht. Selbst in der Nacht steht die Arbeit an der Neuzüchtung für Nutzpflanzen nicht still, dessen wertvoller Saatgut-Tresor durch einen hohen Starkstromzaun gegen eine amerikanische Invasion geschützt wird. Ga betrachtete kurz einen Schwarm proteinreicher Motten, die um eine Sicherheitsleuchte kreisten, und fuhr dann in melancholischer Stimmung den letzten Teil der unbefestigten Straße hoch.
Kommandant Ga hielt vor dem Haus. Die Staubwolke, die ihnen gefolgt war, holte sie nun ein
Weitere Kostenlose Bücher