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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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nahm ihm jemand die Maske ab, unter der nicht der Geliebte Führer zum Vorschein kam, sondern ein kleiner, desorientierter Mann mit unauffälligen Gesichtszügen.
    Der Scheinwerfer schoss nach oben zur Loge. Dort stand – Beifall klatschend – der echte Geliebte Führer.
    »Dachtet ihr, das bin ich?«, rief er. »Dachtet ihr etwa, das bin ich?«
    Der Geliebte Führer Kim Jong Il kam herzlich lachend die Treppe herunter, schüttelte Hände und ließ sich zu einem gelungenen Scherz gratulieren. Er blieb stehen, um nach dem kleinen Mann im Dobok zu schauen, und beugte sich über ihn, um seine Platzwunde in Augenschein zu nehmen. »Das ist mein Fahrer«, sagte der Geliebte Führer und schüttelte den Kopf über die blutende Nase des Männchens. Er tätschelte ihm die Schulter und bestellte seinen Leibarzt.
    Im Saal wurde es totenstill, als der Geliebte Führer auf Kommandant Ga zuging.
    Sun Moon drehte sich zur Seite, um näher heranzurücken und besser hören zu können.
    »Nein, nein«, sagte der Geliebte Führer. »Du musst gerade stehen, damit die Blutung aufhört.« Trotz der Schmerzen in seinem Rumpf richtete Ga sich auf. Dann fasste der GeliebteFührer Ga an die Nase, drückte von oben her die Nasenflügel zusammen und zog die Finger nach unten, um Blut und Rotz herauszupressen.
    »Dachtest du, das wäre ich?«, fragte er Ga.
    Ga nickte. »Ich dachte, das wären Sie.«
    Der Geliebte Führer lachte und schleuderte den Schnodder von seinen Fingern. »Keine Sorge«, lachte er. »Die Nase ist nicht gebrochen.«
    Dem Geliebten Führer wurde ein Taschentuch gereicht. Er wischte sich die Hände ab und richtete das Wort an die Gäste: »Er dachte, das wäre ich«, verkündete er zur allgemeinen Erheiterung. »Doch ich bin der wahre Kim Jong Il, ich bin der Echte.« Er zeigte auf seinen Fahrer, der die Augen weit aufriss. »Er ist der Hochstapler, er ist der Betrüger. Ich bin der wahre Kim Jong Il.«
    Der Geliebte Führer faltete das Tuch und gab es Kommandant Ga für seine Nase. Dann reckte er Gas Arm in die Höhe. »Und das hier ist der wahre Kommandant Ga. Er hat Kimura besiegt, und jetzt wird er die Amerikaner besiegen.«
    Der Geliebte Führer hob die Stimme, als würde er zu ganz Pjöngjang, ja zu ganz Nordkorea sprechen. »Wo ein wahrer Held gebraucht wird, haben wir Kommandant Ga«, verkündete er. »Wo ein Verteidiger der Nation gebraucht wird, haben wir Kommandant Ga. Applaus für den Träger des Goldgurts!«
    Der Applaus war gewaltig und lang anhaltend. Leise sagte der Geliebte Führer zu ihm: »Verbeuge dich, Kommandant.«
    Mit den Händen an der Hosennaht verbeugte Ga sich aus der Hüfte, hielt einen Moment inne und sah das Blut aus seiner Nase auf den Teppich des Opernhauses tropfen. Als er sich aufrichtete, erschien wie auf Kommando ein kleines Geschwader hübscher Kellnerinnen mit Tabletts voller Champagnergläser. Über ihnen stimmte Dak-Ho »Heimliche Helden« an, die Titelmelodie aus Sun Moons erstem Spielfilm.
    Kommandant Ga schaute zu Sun Moon hinüber. Ihr Blick verriet, dass sie begriffen hatte, dass es keine Rolle spielte, ob ihr Mann tot oder lebendig war – er war ersetzt worden, und sie würde ihn nie wiedersehen.
    Sie wandte sich ab, und er ging ihr nach.
    An einem leeren Tisch holte er sie ein. Sie setzte sich zwischen die Mäntel und Taschen der anderen Gäste. »Was ist mit deinem Film?«, fragte er. »Was hast du herausgefunden?«
    Ihre Hände zitterten. »Es wird keinen Film geben«, erwiderte sie. Die Trauer in ihrem Gesicht war echt, keine Spur von Schauspielerei.
    Sie war kurz davor zu weinen. Er versuchte sie zu trösten, aber davon wollte sie nichts wissen.
    »So was ist mir noch nie passiert«, schluchzte Sun Moon. »Alles ist schiefgegangen.«
    »Nicht alles«, beruhigte er sie.
    »Doch, alles«, widersprach sie. »Du weißt einfach nicht, was das für ein Gefühl ist. Du weißt nicht, wie es ist, wenn du ein Jahr lang an einem Film gearbeitet hast und sie ihn dann nicht zeigen. Du hast noch nie all deine Freunde verloren. Dir wurde nie dein Mann genommen.«
    »So etwas darfst du nicht sagen«, ermahnte er sie. »Hör auf mit diesem Gerede.«
    »So muss sich Hunger anfühlen«, sinnierte sie, »diese Leere innen drin. So müssen sich die Menschen in Afrika fühlen, die nichts zu essen haben.«
    Mit einem Mal widerte sie ihn an.
    »Du willst wissen, wie Hunger schmeckt?«, fragte er sie böse.
    Vom Tischgesteck pflückte er das Blütenblatt einer Rose,riss den hellen Ansatz ab und

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