Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
und waberte gespenstisch im Lichtstrahl der auf die Haustür gerichteten Scheinwerfer. Beklommen fixierte Sun Moon die Tür.
»Träume ich?«, fragte Sun Moon. »Sag mir, dass dies alles nur ein Film ist, in dem ich mitspiele.«
Doch jetzt genug von euren Launen, ihr zwei! Jetzt ist Schlafenszeit. Ab ins Bett mit euch ...
Oh, Sun Moon, wir tragen dich immer in unseren Herzen!
Und nun wiederholen wir alle zusammen: Wir vermissen dich, Sun Moon!
Und zum Abschluss noch eine Warnung, Bürger: Die morgige Folge enthält eine Passage, die nicht jugendfrei ist. Schützt also die Ohren unserer jüngsten Bürger, wenn die Schauspielerin Sun Moon entscheidet, ob sie sich ihrem neuen Ehemann Kommandant Ga vollkommen hingibt, wie es das Gesetz von der Ehefrau verlangt, oder töricht ihre Keuschheit verteidigt.
Denkt daran, Bürgerinnen: So bewundernswert es auch scheinen mag, einem verschollenen Ehemann treu zu bleiben – eine solche Pflichtversessenheit ist fehlgeleitet. Immer, wenn ein geliebter Mensch verschwindet, bleibt ein gewisser Schmerz zurück. Die Amerikaner sagen: »Die Zeit heilt alle Wunden«. Doch das ist nicht wahr. Experimente haben bewiesen, dass die Heilung einzig und allein durch Selbstkritiksitzungen, durch die inspirierenden Traktate Kim Jong Ils und durch Ersatzehegatten beschleunigt wird. Wenn dir der Geliebte Führer einen neuen Ehemann schenkt, dann gib dich ihm hin. Dennoch: Wir lieben dich, Sun Moon!
Noch einmal: Wir lieben dich, Sun Moon!
Lauter, Bürger!
Sprecht mir nach: Wir bewundern dich, Sun Moon!
Gut, Bürger, gar nicht schlecht.
Lauter: Dein Opfer ist uns ein Vorbild, Sun Moon!
Der Große Führer Kim Il Sung im Himmel soll euch hören!
Alle gemeinsam: Wir werden im Blut der Amerikaner baden, die in unser großes Land gekommen sind, um dir Leid anzutun!
Doch jetzt greifen wir zu weit vor. Das sparen wir uns auf für eine der nächsten Folgen.
VON DER FEIER des Geliebten Führers zu Hause angelangt, beobachtete Kommandant Ga, wie Sun Moon ihrer abendlichen Routine nachging. Zuerst zündete sie eine Öllampe an, wie sie an den Stränden von Jeju aufgestellt werden, um den Fischern bei Nacht die Orientierung zu erleichtern. Dabei ließ sie zum ersten Mal die Tür offen. Auf dem Boden des Zimmers konnte er im Schein ihrer Lampe eine niedrige Matratze und zusammengerollte Ochsenhaarmatten erkennen.
In der dunklen Küche nahm er sich eine Flasche Ryoksong aus der kühlen Nische unter dem Spültisch. Das Bier schmeckte, und die kühlende Flasche tat seiner schmerzenden Hand gut. Er wollte nicht wissen, wie sein Gesicht aussah. Sun Moon untersuchte seine Fingerknöchel, die langsam gelb anliefen.
»Ich habe schon viele gebrochene Hände gesehen«, sagte sie. »Die ist nur verstaucht.«
»Meinst du, dem Fahrer geht’s gut? Es sah aus, als hätte ich ihm die Nase gebrochen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das hast du dir selbst so ausgesucht. Für den Mann, in dessen Rolle du geschlüpft bist, war Gewalt der Lebensinhalt«, sagte sie. »Da kommt so was schon mal vor.«
»Du verwechselst da was«, erwiderte er. »Dein Mann war es, der mich ausgesucht hat.«
»Was spielt das für eine Rolle? Du bist jetzt er, oder etwa nicht? Kommandant Ga Chol Chun – soll ich dich so nennen?«
»Schau dir an, wie deine Kinder die Augen niederschlagenund ständig Angst haben. Ich will nicht der Mann sein, der sie dazu gemacht hat.«
»Dann sag mir: Wie soll ich dich nennen?«
Er schüttelte den Kopf.
Ihr Blick bestätigte ihm, dass es ein schwieriges Problem war.
Die Schatten, die das Licht der Lampe warf, betonten Sun Moons Rundungen. Sie lehnte sich gegen die Anrichte und starrte die Schränke an, als würde sie ihren Inhalt betrachten. Doch in Wirklichkeit schaute sie in die andere Richtung, nach innen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er.
»Diese Frau«, erwiderte sie. »Sie geht mir einfach nicht aus dem Sinn.«
»Dieses Gerede von Gehirnamputation, das war Unfug«, beruhigte er sie. »Ein solches Lager gibt es nicht. Die Leute setzen aus Angst solche Gerüchte in die Welt, weil sie keine Ahnung haben.«
Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Er klappte den Mund auf und zu und bewegte den Kiefer hin und her, um den Schaden an seinem Gesicht zu beurteilen. Natürlich gab es ein Zombiegefängnis – in dem Moment, als er davon hörte, hatte er sofort gewusst, dass es stimmen musste. Er wünschte, er könnte Mongnan danach fragen – sie würde Bescheid wissen, sie würde ihm
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