Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
von der Lobotomie-Fabrik erzählen, und zwar so, dass er danach überzeugt war, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein, dass sein Los im Vergleich zu dem anderer Leute Gold wert war.
»Wenn du dir Sorgen um deinen Mann machst, darüber, was mit ihm passiert ist, erzähle ich dir die Geschichte.«
»Ich will nicht über ihn sprechen«, antwortete sie. Sie kaute an einem Fingernagel herum. »Du darfst nie wieder dieZigaretten ausgehen lassen, das musst du mir versprechen.« Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und stellte es auf die Anrichte. »Abends um diese Zeit schenkst du mir immer ein Glas Reiswein ein«, erklärte sie ihm. »Das gehört zu deinen Pflichten.«
Er ging mit der Lampe hinunter in den Tunnel, um eine Flasche Reiswein zu holen, doch stattdessen blieb er vor den DVDs stehen. Er fuhr mit dem Finger die Reihe entlang, auf der Suche nach einem ihrer Filme, doch es waren keine koreanischen Filme dabei. Sein Gehirn schaltete nach Titeln wie Rambo , Mondsüchtig und Jäger des verlorenen Schatzes schon bald auf das westliche Alphabet um und er konnte nicht mehr aufhören, die Filme durchzugucken. Plötzlich stand Sun Moon neben ihm.
»Du hast mich im Dunkeln stehenlassen«, beschwerte sie sich. »Du musst noch viel darüber lernen, wie du mich zu behandeln hast.«
»Ich habe einen deiner Filme gesucht.«
»Ja?«
»Aber es gibt keinen.«
»Nicht einen einzigen?« Sie ließ den Blick über die vielen Regale mit Filmen schweifen. »Er hatte so viele Filme, und nicht einen einzigen mit seiner Frau?«, fragte sie verwirrt. Sie zog eine DVD aus dem Regal. »Was ist das für ein Film?«
Ga sah sich das Cover an. »Er heißt Schindlers Liste .« Das Wort »Schindler« auszusprechen, fiel ihm schwer.
Sie öffnete die Hülle und betrachtete die schimmernde Oberfläche der DVD.
»Das ist Blödsinn«, stellte sie fest. »Filme sind das Eigentum des Volkes und nichts, was ein Einzelner horten darf. Wenn du meine Filme sehen willst, geh ins Moranbong-Lichtspieltheater, dort werden sie immer gezeigt. Dort kannstdu dir Seite an Seite mit Arbeitern und Politbüromitgliedern einen Sun-Moon-Film ansehen.«
»Hast du einen von denen hier gesehen?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass meine Schauspielkunst rein und unverfälscht ist. Das hier würde sie nur verderben. Vielleicht bin ich die einzige unverfälschte Schauspielerin der Welt.« Sie zog einen anderen Film heraus und wedelte mit der DVD. »Wie kann man ein Künstler sein, wenn man für Geld spielt? Wie die Paviane im Zoo, die für einen Kohlkopf an ihrer Kette tanzen. Ich spiele für eine Nation, für ein ganzes Volk.« Sie wirkte auf einmal geknickt. »Der Geliebte Führer hat gesagt, ich spiele für die ganze Welt. Er hat mir meinen Namen gegeben, weißt du. ›Sun‹ bedeutet auf Englisch ›Sonne‹, und ›Moon‹ bedeutet ›Mond‹. Ich sollte Tag und Nacht sein, hell und dunkel, ein Stern und sein ewiger Satellit zugleich. Der Geliebte Führer meinte, das würde auf das amerikanische Publikum geheimnisvoll wirken, diese starke Symbolik würde die Leute ansprechen.«
Sie sah ihn durchdringend an.
»Aber in Amerika kennen sie meine Filme nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Ich glaube nicht.«
Sie stellte Schindlers Liste zurück ins Regal. »Sorg dafür, dass die verschwinden«, sagte sie. »Ich will sie nicht mehr sehen.«
»Wie hat er sie angeschaut, dein Mann?«, wollte er wissen. »Ihr habt kein Abspielgerät.«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Hatte er einen Laptop?«
»Einen was?«
»Einen Computer zum Zusammenklappen.«
»Ja«, bestätigte sie. »Aber den habe ich schon länger nicht mehr gesehen.«
»Dort, wo sich der Laptop versteckt«, sagte er, »finden wir garantiert auch deine Zigaretten.«
»Für Wein ist es jetzt zu spät«, stellte sie fest. »Komm, ich mache das Bett fertig.«
*
Durch das dem Bett gegenüberliegende große Fenster hatte man freie Sicht auf das Dunkel der Stadt. Sun Moon stellte die brennende Lampe auf ein Tischchen. Die Kinder schliefen auf einem Podest am Fußende, zwischen ihnen lag der Hund. Oben auf dem Sims, außer Reichweite der Kinder, stand die Pfirsichdose, die Genosse Buc ihnen gegeben hatte. Im schwachen Licht entkleideten sie sich bis auf die Unterwäsche. Als sie unter die Decke geschlüpft waren, fing Sun Moon an zu sprechen.
»Das sind die Regeln«, eröffnete sie ihm. »Erstens wirst du den Tunnel weitergraben und nicht aufhören, bis es einen Ausgang gibt. Ich
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