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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Hinsicht war er mir sehr ähnlich – ich schrieb die Biografien meiner Klienten und dokumentierte darin ihr Leben bis zu dem Augenblick, in dem sie mich kennenlernten. Doch ich muss zugeben, dass ich mich um den weiteren Verbleib derjenigen, die die Abteilung verließen, nie gekümmert habe. Nicht eine Biografie hatte einen Epilog. Unsere wichtigste Gemeinsamkeit war allerdings, dass Ga ein Leben hatte nehmen müssen, um ein neues Lebenbeginnen zu können. Die Gültigkeit dieses Grundsatzes wurde mir tagtäglich von Neuem bewiesen. Nach jahrelanger Schreibhemmung verstand ich nun endlich, dass ich mit Kommandant Gas Biografie vielleicht auch meine eigene schrieb.
    Ich stand am Fenster und urinierte beim schwachen Licht der Sterne in ein Einmachglas. Von unten drang ein Geräusch herauf, das mich trotz der Dunkelheit, trotz der vielen Kilometer zwischen mir und der nächsten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft wissen ließ, dass sich die Reispflanzen der Nation schwer unter ihren goldenen Körnern bogen und Erntezeit war: Zwei Kipplaster hielten auf der anderen Seite der Sin˘uiju-Straße, und die Männer des Ministers für Massenmobilmachung holten die Bewohner des Hochhauses Arbeiterparadies mit Megaphonen aus dem Schlaf. Noch in ihren Schlafanzügen wurden sie auf die Laster getrieben. Bei Sonnenaufgang würden sie bereits vornübergebeugt bis zu den Knöcheln im Schlamm stehen und einen Tag lang lernen, dass es ohne Knochenarbeit auch nichts zu essen gab.
    »Vater«, sagte ich in den dunklen Raum hinein. »Vater, geht es wirklich nur ums Überleben? Gibt es wirklich nichts anderes?« Das Einmachglas war warm in meiner Hand; vorsichtig schraubte ich den Deckel darauf. Als die Kipplaster wieder abgefahren waren, war nur noch zu hören, wie mein Vater leise pfeifend durch die Nase atmete, ein deutliches Zeichen, dass er wach war.
    *
    Am Morgen fuhren wir mit der Gondel hoch auf den Berg Taesong. Jujack und Leonardo übernahmen das Haus vomGenossen Buc, während Q-Ki und ich die Wohnräume von Kommandant Ga durchsuchten. Es fiel uns schwer, uns zu konzentrieren: Jedes Mal, wenn man aufblickte, war hinter den riesengroßen Fenstern die prächtige Stadtkulisse Pjöngjangs zu sehen. Es verschlug einem den Atem. Das gesamte Haus war wie aus einem Traum – Q-Ki schüttelte nur den Kopf darüber, dass diese Leute ein Schlafzimmer und eine separate Küche besaßen. Ihre Kloschüssel mussten sie mit niemandem teilen. Alles war voller Hundehaare; es war offensichtlich, dass sie dieses Tier nur zum Vergnügen gehalten hatten. Den Goldgurt in seiner beleuchteten Vitrine wagten wir kaum unter die Lupe zu nehmen. Selbst die Pubjok hatten ihn bei ihrem ersten Durchgang nicht angerührt.
    Den Garten hatte schon jemand restlos abgeerntet – nicht mal die kleinste Erbse war übrig, die ich meinen Eltern hätte mitbringen können. Ob Kommandant Ga und Sun Moon vielleicht Gemüse mitgenommen hatten, weil sie auf Reisen gehen wollten? Oder hatte Ga Nahrungsmittel für seine Flucht gebunkert? Auf ihrem Abfallhaufen lagen die Schale einer ganzen Melone und die dünnen Knöchelchen von Singvögeln. Waren sie vielleicht doch ärmer gewesen, als ihre schicke Yangban -Villa vermuten ließ?
    Unter dem Haus fanden wir einen dreißig Meter langen Tunnel, voll mit Reissäcken und amerikanischen Filmen. Die Ausstiegsluke befand sich auf der anderen Straßenseite, hinter ein paar Büschen. Im Haus selbst entdeckten wir mehrere in die Wände eingelassene Verstecke, die aber größtenteils leer waren. In dem einen befand sich ein ganzer Stapel extrem illegaler Kampfsportmagazine aus Südkorea. Sie waren komplett zerlesen; die Fotos zeigten muskelstrotzende, kampfbereite Männer. Neben den Illustrierten lag ein einzelnes Taschentuch. Ich nahm es auf, um nach einem Monogramm zusuchen, und drehte mich zu Q-Ki um. »Ich wüsste zu gern, was dieses Taschentuch hier ...«
    »Finger weg!«, rief Q-Ki.
    Wie von der Tarantel gestochen ließ ich das Taschentuch zu Boden fallen. »Was?«, fragte ich.
    »Wissen Sie etwa nicht, wofür Ga das benutzt hat?«, fragte sie mich. Sie sah mich an, als wäre ich ein blinder, neugeborener Welpe im Zoo. »Sie sind doch selber ein Mann ...«
    Im Badezimmer wies Q-Ki mich darauf hin, dass Sun Moons Kamm und Kommandant Gas Rasierer nebeneinander auf dem Waschbeckenrand lagen. Unsere Praktikantin war an diesem Tag mit einem blauen Auge zur Arbeit erschienen, und ich hatte so getan, als merkte ich nichts, aber vor

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