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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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1. Mai , und wir waren einen Augenblick lang von Neuem sprachlos, dass wir uns in einer solchen Villa befanden, ohne direkte Nachbarn und gemeinsame Wasserkräne, ohne Klappbetten, die in die Ecke geschoben wurden, ohne zweiundvierzig Treppenabsätze, die man hinunter zum Waschraum trotten musste.
    Wir teilten Kommandant Gas Reis und Filme untereinander auf. Unsere Praktikanten waren sich einig, dass Titanic der beste Film aller Zeiten war. Ich wies Jujack an, die Bibeln vom Balkon zu werfen. Eine Aktentasche voller DVDs konnte man einem MfSS-Beamten vielleicht noch erklären, aber nicht so etwas.
    *
    Zurück in Abteilung 42 hielt ich meine tägliche Sitzung mit Kommandant Ga ab, und er war gern bereit, mir von allem das Was und Warum und Wo und Wann mitzuteilen, nur nicht vom Verbleib der Filmdiva und ihrer Kinder. Wieder erzählte er, wie ihn Mongnan dazu überredet hatte, die Uniform des toten Kommandanten anzuziehen, und rekapitulierte erneut das Gespräch mit dem unter einem großen Gesteinsbrocken wankenden Lagerkommandanten, der ihm erlaubte, das Straflager zu verlassen. Ich muss zugeben, dass ich mir die Kapitel von Gas Biographie anfangs dramatischervorgestellt hatte – ich hatte mir Ereignisse wie den unterirdischen Zweikampf mit dem Träger des Goldgurts ausgemalt. Doch mittlerweile schrieb ich ein Buch, das sehr viel differenzierter war, und einzig das Wie spielte für mich noch eine Rolle.
    »Ich verstehe, dass Ihnen Ihr großes Mundwerk bei der Flucht aus dem Gefängnis geholfen hat«, sagte ich zu Kommandant Ga. »Aber wie haben Sie den Mut aufgebracht, zum Haus von Sun Moon zu fahren? Was haben Sie zu ihr gesagt, nachdem Sie gerade ihren Mann ermordet hatten?«
    Kommandant Ga konnte mittlerweile wieder aufstehen. Wir lehnten in der kleinen Zelle an gegenüberliegenden Wänden und rauchten.
    »Wohin hätte ich denn sonst gehen sollen?«, fragte er zurück. »Was hätte ich ihr sagen sollen, wenn nicht die Wahrheit?«
    »Und wie hat sie darauf reagiert?«
    »Sie hat sich weinend zu Boden geworfen.«
    »Natürlich. Aber wie haben Sie es geschafft, dass Sie kurz darauf einen gemeinsamen Becher benutzt haben?«
    »Einen gemeinsamen Becher?«
    »Sie wissen, was ich sagen will. Wie bekommt man eine Frau dazu, dass sie einen liebt, auch wenn sie weiß, dass man einem anderen Menschen weh getan hat?«, wollte ich wissen.
    »Gibt es jemanden, den Sie lieben?«, fragte Kommandant Ga mich.
    »Hier stelle ich die Fragen«, gab ich zurück, wollte aber keinesfalls, dass er dachte, ich hätte niemanden. Also nickte ich ihm leichthin zu, von wegen: Sind wir nicht beide Männer?
    »Dann liebt Sie also jemand, obwohl Sie das hier machen?«
    » Obwohl ich das hier mache ?«, fragte ich zurück. »Ich helfe den Menschen! Ich bewahre sie vor der bestialischen Behandlung durch die Pubjok. Ich habe das Verhör in eine Kunst verwandelt, in eine Wissenschaft. Sie haben Ihre Zähne noch, oder etwa nicht? Hat Ihnen irgendjemand Draht um die Fingerkuppen gewickelt, bis sie lila angelaufen und allmählich abgestorben sind? Ich will wissen, wie es dazu kam, dass Sun Moon Sie geliebt hat. Sie waren nur der Ersatzehemann. Ersatzmänner werden nie aufrichtig geliebt. Nur die erste Familie ist den Leuten wirklich wichtig.«
    Kommandant Ga begann, über die Liebe zu sprechen, doch ich hatte plötzlich nur noch ein lautes Rauschen im Ohr. Ich konnte nicht mehr zuhören, weil mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke gekommen war: Vielleicht hatten meine Eltern ja eine erste Familie gehabt – vielleicht hatten sie vor mir schon andere Kinder gehabt, die ihnen weggestorben waren, und ich war nur ein verspäteter, hohler Ersatz. Das würde auch erklären, warum sie schon so alt waren und mich irgendwie für ungenügend zu halten schienen. Und diese Angst in ihren Augen – hatten sie vielleicht unglaubliche Angst davor, auch mich noch zu verlieren? Weil sie genau wussten, dass sie so einen Verlust nicht noch einmal ertragen würden?
    Mit der U-Bahn fuhr ich zum Zentralregister und suchte die Akten meiner Eltern heraus. Ich las den ganzen Nachmittag darin. Sie waren ein weiteres Beispiel dafür, warum die Biografien aller Bürger so dringend notwendig sind: Die Akten waren gefüllt mit Daten und Stempeln und unscharfen Bildern, Aussagen von Informanten sowie Berichten aus dem Wohnblock, von Fabrikkomitees, Bezirksgremien, Arbeitseinsätzen und Parteiversammlungen. Doch nichts davon gab wirklich Auskunft, vermittelte ein Gefühl dafür, wer

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