Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
diese beiden alten Leute tatsächlich waren, warum sie von Manp'oin die Stadt gekommen waren, um ihr ganzes Leben lang in der Fabrik Beweis für die Macht der Maschine am Fließband zu stehen. Und von der Entbindungsklinik Pjöngjang gab es schließlich nur einen einzigen Stempel: das Datum meiner Geburt.
Als ich in die Abteilung 42 zurückkam, steuerte ich den Aufenthaltsraum der Pubjok an und steckte mein Schildchen »Vernehmungsbeamter Nummer 6« von »Im Dienst« auf »Außer Dienst«. Q-Ki und Sarge hatten über irgendwas gelacht, aber als ich den Raum betrat, waren sie verstummt. Von wegen Frauen waren hier nicht gern gesehen! Q-Ki hatte ihren Kittel ausgezogen, und als sie sich auf einem der Pubjok-Sessel zurücklehnte, entgingen keinem von uns ihre weiblichen Rundungen.
Sarge hob seine Hand – sie war gerade frisch bandagiert. Sogar dieser weißhaarige Alte, der kurz vor der Pensionierung stand, hatte sich schon wieder die Hand brechen müssen! Er verstellte seine Stimme, als würde seine Hand reden. »Hat mir der Türrahmen weh getan?«, fragte seine Hand. »Oder hat mich der Türrahmen lieb?«
Q-Ki bemühte sich, nicht laut loszuprusten.
Statt mit Handbüchern zur Verhörtechnik waren die Regale der Pubjok mit Ryoksong-Flaschen gefüllt, und ich konnte mir richtig ausmalen, wie die Nacht für meine Kollegen verlaufen würde: Schon bald würden ihre Gesichter rot glänzen, sie würden zur Karaokemaschine patriotische Lieder schmettern, und kurz darauf würde Q-Ki betrunken Pingpong mit den Pubjok spielen, die sich alle um den Tisch drängelten, um ihr bei der Vorhand in den Ausschnitt zu gucken und ihr möglichst nah zu sein, wenn sie die alten Herren mit ihrem knallroten Schläger zum Schwitzen brachte.
»Sie wollen doch nicht etwa einen Namen von der Tafel streichen?«, fragte Q-Ki mich frech.
Jetzt hatte Sarge etwas zu lachen.
Ich war mittlerweile schon viel zu spät dran, um meinen Eltern das Abendessen zuzubereiten, und da die U-Bahn nicht mehr fuhr, hätte ich im Dunkeln quer durch die Stadt marschieren müssen, um ihnen bei ihrem abendlichen Gang auf die Toilette zu helfen. Doch dann warf ich einen Blick auf die große Tafel und schaute mir zum ersten Mal seit Wochen genauer an, wie viel ich noch zu tun hatte. Ich hatte elf offene Fälle. Die ganze Pubjok-Mannschaft zusammen hatte nur einen einzigen – jemanden, den sie bis zum Morgen im Sumpf ließen, bis er mürbe war. Die Pubjok schließen ihre Fälle innerhalb einer Dreiviertelstunde ab: Sie schleppen die Leute in den Folterkeller, und kurz vor der Ohnmacht helfen sie ihnen noch schnell beim Unterschreiben des Geständnisses. Aber als ich mir jetzt die vielen Namen auf der Tafel ansah, wurde mir klar, dass meine Besessenheit für Ga zu weit gegangen war. Mein ältester offener Fall war eine Krankenschwester aus der Militärsiedlung Panmunjeom, die eines Flirts mit einem südkoreanischen Soldaten über die DMZ hinweg beschuldigt wurde. Angeblich hatte sie ihm mit dem kleinen Finger gewinkt und ihm über das Minenfeld hinweg Küsse zugeworfen. Im Grunde war sie der einfachste Fall von allen, und genau deswegen schob ich ihn vor mir her. An der Tafel war ihr Aufenthaltsort mit »Kellerloch« angegeben, und mir fiel ein, dass ich sie seit fünf Tagen dort unten vergessen hatte. Ich rückte mein Täfelchen zurück auf »Im Dienst« und flüchtete, bevor das Gekicher über mich losging.
Als ich die Krankenschwester aus dem Loch rausholte, roch sie nicht sonderlich gut. Das Licht war für sie unerträglich.
»Ich bin so froh, Sie zu sehen«, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ich möchte wirklich gestehen. Ich habe viel nachgedacht und habe einiges zu sagen.«
Ich brachte sie in ein Verhörzimmer und ließ den Autopiloten warmlaufen. Das Ganze war wirklich eine Schande. Ich hatte ihre Biografie schon halb fertig – drei Nachmittage hatte ich damit verschwendet. Und ihr Geständnis würde sich praktisch von selbst schreiben. Es war nicht ihre Schuld – sie war einfach durchs Raster gefallen.
Ich machte es ihr auf einem unserer himmelblauen Stühle gemütlich.
»Ich bin bereit. Ich kann viele schlechte Mitbürger nennen, die versucht haben, mich zu korrumpieren, ich habe eine Liste, ich bin bereit, sie zu denunzieren.«
Ich konnte nur daran denken, was passieren würde, wenn ich meinen Vater nicht innerhalb der nächsten Stunde auf die Toilette brachte. Die Krankenschwester trug einen Krankenhauskittel, und ich fuhr ihren Körper
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