Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
einem Spiegel ließ es sich nicht länger leugnen.
»Wollte Ihnen jemand etwas Böses?«, fragte ich sie.
»Wie kommen Sie darauf, dass das nicht ein Ausdruck von Liebe ist?«
Ich lachte. »Na, das wäre ja wirklich eine ganze neue Art, jemandem seine Zuneigung zu zeigen.«
Q-Ki blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen im Spiegel an.
Sie nahm ein Glas vom Waschbecken und hielt es ans Licht.
»Sie haben sich den Zahnputzbecher geteilt«, stellte sie fest. »Das ist Liebe. Es gibt viele Beweise.«
»Das ist ein Beweis für Liebe?«, fragte ich sie. Ich teile mir auch einen Zahnputzbecher mit meinen Eltern.
Q-Ki analysierte das Schlafzimmer. »Sun Moon hat auf dieser Seite geschlafen, die ist näher am Bad.« Q-Ki trat an das kleine Tischchen neben dem Bett, öffnete und schloss die Schubladen und klopfte gegen das Holz. Sie sagte: »Eine kluge Frau würde ihre Kondome an die Unterseite des Nachttischs kleben. Da würde ihr Mann sie nicht sehen, aber wenn sie eins bräuchte, wäre es sofort zur Stelle.«
»Kondome«, wiederholte ich. Jegliche Art der Geburtenkontrolle war strikt verboten.
»Kriegt man auf jedem Schwarzmarkt«, versicherte sie mir. »Stellen die Chinesen in allen Regenbogenfarben her.«
Sie drehte Sun Moons Nachttisch auf den Kopf, aber es klebte nichts darunter.
Ich drehte auch den Nachttisch auf Kommandant Gas Seite um – nichts.
»Da brauchen Sie nicht zu suchen«, sagte Q-Ki. »Der Kommandant hat garantiert keine Verhütung gebraucht.«
Zusammen zogen wir die Decken vom Bett und gingen auf die Knie, um Haare auf den Kissen zu suchen. »Aber sie haben beide hier geschlafen«, stellte ich fest, und wir fuhren mit den Fingerspitzen über jeden Zentimeter Matratze, untersuchten und beschnüffelten alles nach dem kleinsten Anzeichen von Männerspuren. Ungefähr in der Mitte der Matratze nahm ich einen Geruch wahr, wie ich ihn bislang nicht kannte, und ich erbebte innerlich. Dieser Geruch war so unerwartet und so fremd, dass ich keine Worte dafür hatte. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich Q-Ki nicht darauf hinweisen können.
Wir standen beide am Fußende des Betts.
Q-Ki hatte die Arme fassungslos vor der Brust verschränkt. »Sie haben beide hier geschlafen, aber nix fucky-fucky .«
»Nix was?«
»Kein Sex!«, erklärte sie. »Gucken Sie denn zu Hause keine Filme?«
»Solche Filme nicht!«, verteidigte ich mich. In Wahrheit hatte ich überhaupt noch nie einen Film gesehen.
Q-Ki öffnete den Kleiderschrank und ließ den Finger über Sun Moons Chosŏnots fahren, bis sie an einen leeren Kleiderbügel kam. »Das ist das Kleid, das sie mitgenommen hat«, erklärte mir Q-Ki. »Gemessen an den Kleidern, die sie zurückgelassen hat, muss es atemberaubend schön gewesen sein. Sun Moon plante offensichtlich keine längere Reise, doch sie wollte so gut wie irgend möglich aussehen.« Sie betrachtete die glänzenden Stoffe vor sich. »Ich kenne sämtliche Kleider, die sie in ihren Filmen getragen hat«, sagte sie. »Wenn ich hier lang genug stehen bliebe, könnte ich erraten, welches Kleid fehlt.«
»Aber dass sie den Garten vorher abgeerntet haben, das weist doch darauf hin, dass sie länger wegbleiben wollten«, wandte ich ein.
»Vielleicht war es ja auch eine Art Henkersmahlzeit in ihrem besten Kleid.«
Ich erwiderte: »Aber das könnte ja nur sein, wenn ...«
»... wenn Sun Moon wusste, was Ga mit ihr vorhatte«, führte Q-Ki den Gedanken zu Ende.
»Aber wenn Sun Moon wusste, dass Ga sie umbringen wollte, warum hat sie da mitgemacht und sich sogar noch fein angezogen?«
Q-Ki dachte über dieses Rätsel nach, während ihre Finger weiter über die schönen Kleider strichen.
»Vielleicht sollten wir die Kleidungsstücke als Beweismaterial sicherstellen«, schlug ich ihr vor, »dann können Sie sie in Ihrer Freizeit näher unter die Lupe nehmen.«
»Natürlich sind diese Chosŏnots schön«, wehrte sie ab. »So schön wie die Kleider meiner Mutter. Aber ich suche mir meine Klamotten selbst aus. Außerdem passt das nicht zu mir, mich wie eine Fremdenführerin bei der Internationalen Freundschaftsausstellung anzuziehen.«
Leonardo und Jujack kehrten aus dem Haus von Genosse Buc zurück.
»Viel zu berichten gibt’s nicht«, verkündete Leonardo.
»Wir haben ein Geheimversteck in der Küchenwand entdeckt«, fügte Jujack hinzu. »Aber da lagen nur die hier.«
Er hielt fünf Miniaturbibeln hoch.
Plötzlich blitzte in der Ferne die Sonne auf dem stählernen Dach des Stadions
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