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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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geben. »Warum entscheidet sie sich nicht für ein sicheres Leben mit dem netten Ehemann?«
    »Es herrscht Krieg«, erklärte ihr Ga.
    »Aber warum wirft sie diesem verkommenen Rick solche Blicke zu?«, empörte sie sich, obwohl sie ihn mit denselben Blicken ansah. Und bald hatte sie vergessen, wie er andere Leute betrog, seinen Safe mit Geldscheinen füllte und mit Lügen und Bestechungsgeldern um sich warf. Sie sah nur noch, wie er nach einer Zigarette griff, wenn Ilsa ins Zimmer kam, wie er sein Glas zum Mund führte, wenn sie es verließ. Dass niemand glücklich zu sein schien, damit konnte sich Sun Moon identifizieren. Sie nickte zustimmend, dass alle Probleme aus der Hauptstadt der Finsternis, Berlin, zu stammen schienen. Bei einer Rückblende in die Pariser Zeit, in der alle fröhlich waren und nichts als Wein und Brot und Liebe wollten, lächelte Sun Moon unter Tränen, und es folgten ganze Passagen, in denen Kommandant Ga das Dolmetschen aufgab, weil die Mimik der beiden bereits alles sagte — die Emotionen in den Gesichtern von Rick und Ilsa, der Frau, die ihn liebte.
    Als der Film endete, war Sun Moon untröstlich.
    Er legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie reagierte nicht.
    »Mein ganzes Leben ist eine Lüge«, schluchzte sie. »Jede Geste, alles. Sich vorzustellen, dass ich meine Schauspielkunst auf Farbe verschwendet habe, jedes scheußliche Detail in grellen Farben!« Sie rollte auf die Seite und sah ihm von unten in die Augen. Sie krallte die Hände in sein Hemd. »Ich muss es dorthin schaffen, wo dieser Film gemacht wurde«, sagte sie. »Ich muss hier raus und dorthin, wo es wahre Schauspielkunst gibt. Ich brauche das Transitvisum, und du musst mir helfen. Nicht, weil du meinen Mann getötet hast oder weil wir dafür büßen werden, wenn der Geliebte Führer dich verstößt, sondern weil du bist wie Rick. Du bist ein ehrenwerter Mann, genau wie er.«
    »Aber das war doch nur ein Film.«
    »War es nicht«, gab sie voller Trotz zurück.
    »Aber wie soll ich dich hier rausschaffen?«
    »Du bist ein außergewöhnlicher Mann. Du kannst uns hier rausbringen. Und ich sage dir, dass du es tun musst.«
    »Aber Rick hat seine eigenen Entscheidungen getroffen.«
    »Genau. Ich habe dir gesagt, was ich brauche. Und jetzt musst du dich entscheiden.«
    »Aber was ist mit uns?«, fragte er.
    Sie schaute ihn an, als wäre auf einmal alles ganz klar. Als wüsste sie jetzt, wie am Set, welche Motivation ihren Filmpartner antrieb, und dass sich die Handlung daraus entwickeln würde.
    »Wie meinst du das?«, fragte sie ihn.
    »Wenn du sagst, bring uns hier raus, meinst du damit uns alle, meinst du damit auch mich?«
    Sie zog ihn an sich. »Du bist mein Mann«, sagte sie. »Und ich bin deine Frau. Das meine ich mit ›uns‹.«
    Er blickte lange in ihre Augen, als er die Worte hörte, auf die er, ohne es zu ahnen, sein ganzes Leben lang gewartet hatte.
    »Mein Mann hat immer gesagt, all das hier würde eines Tages zu Ende gehen«, sagte sie. »Auf diesen Tag warte ich nicht.«
    Ga legte seine Hand auf ihre. »Und? Hatte er einen Plan?«
    »Ja«, antwortete sie. »Ich habe seinen Plan entdeckt – Reisepass, Bargeld, Reisevisa. Aber nur für sich selbst. Nicht mal für seine Kinder.«
    »Keine Angst«, erwiderte er. »Mein Plan wird anders sein.«

MITTEN IN DER NACHT wachte ich auf. Ich spürte, dass meine Eltern ebenfalls wach waren. Eine Weile waren auf der Straße die marschierenden Stiefel eines Juche-Jungmädchenverbandes auf dem Weg zu einer nächtlichen Pionierkundgebung auf dem Kumsusan-Platz zu hören, die erst am Morgen vorüber wäre. Wenn ich dann zur Arbeit ging, würden mir die Mädchen auf ihrem Heimweg entgegenkommen – die Gesichter schwarz vom Feuerrauch, gemalte Slogans auf den dünnen Armen. Und diese wilden Augen. Ich starrte die Decke an und dachte an die jungen Ziegen über uns, die mit ihren Hufen nervöse Trippelschrittchen machten, weil es zu dunkel war, um die Dachkante zu erkennen.
    Zum wiederholten Male musste ich daran denken, wie sehr Kommandant Gas Biografie der meinen ähnelte. Wir waren beide im Grunde namenlos – es gab keinen Namen, bei dem uns Freunde und Verwandte hätten rufen können, es gab kein Wort, das zu unserem Innersten sprach. Außerdem war ich immer stärker davon überzeugt, dass ihm der Verbleib der Schauspielerin und ihrer Kinder unbekannt war. Klar, er schien überzeugt zu sein, dass es ihnen gut ging, mehr schien er aber wirklich nicht zu wissen. In der

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