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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ein Knäuel Giftschlangen.
    »Und kommt dir das hier texanisch vor?«, fragte Genosse Buc.
    Kommandant Ga zuckte die Achseln. »Der Geliebte Führer ist noch nie in Texas gewesen«, meinte er. »Er wird glauben, dass es aussieht wie Texas, und nur darauf kommt es an.«
    »Das war nicht meine Frage.«
    Ga blickte zum Himmel. Würde es noch einmal regnen? Der heftige Wolkenbruch am Morgen hatte alles verfinstert; auch im Zimmer war es dämmrig gewesen, als Sun Moon imBett zu ihm herüberrückte. »Ich muss wissen, ob er wirklich weg ist«, hatte sie gesagt. »Mein Mann ist so oft verschwunden und nach einigen Tagen oder Wochen doch wieder aufgetaucht, jedes Mal überraschend, als wollte er mich auf die Probe stellen. Wenn er jetzt zurückkehrte, wenn er sähe, was wir vorhaben ... du kannst es dir nicht vorstellen.« Sie zögerte. »Wenn er jemandem wirklich weh tut«, fügte sie hinzu, »macht er keine Fotos.«
    Leicht lag ihre Hand auf seiner Brust. Er berührte ihre Schulter, die von der Decke warm war. »Vertraut mir. Du wirst ihn nie wiedersehen.« Er fuhr mit der Hand an ihrer Seite entlang, die zarte Haut gab weich unter seinen Fingerspitzen nach.
    »Nein«, sagte sie und rückte von ihm ab. »Sag mir einfach nur, dass er tot ist. Seit wir unseren Plan gemacht haben – jetzt, da wir alles riskieren – werde ich das Gefühl nicht los, dass er zurückkommt.«
    »Er ist tot, glaub’s mir«, beteuerte er. Aber so einfach war das nicht. In der Mine hatte dunkles Chaos geherrscht. Er hatte den Kommandanten von hinten in einen Würgegriff genommen, einmal komplett durchgezählt und dann immer noch weitergezählt. Dann war Mongnan dazugekommen; sie hatte ihm gesagt, er solle die Uniform des Kommandanten anziehen. Er hatte sie angezogen und gut zugehört, als sie ihm vorsprach, was er zum Lagerkommandanten sagen sollte. Aber als sie dann meinte, er solle dem nackten Mann mit einem Felsbrocken den Schädel einschlagen, hatte er den Kopf geschüttelt. Stattdessen hatte er den reglosen Körper zu einem Schacht gerollt. Wie sich herausstellte, war der nicht gerade tief. Einen kurzen Moment war der Mann abwärts gepoltert und dann noch ein kleines Stück weitergerutscht. Die Zweifel, die Sun Moon gesät hatte, ließen die Befürchtung inihm aufkeimen, dass er den echten Kommandanten Ga nur halb getötet hatte, dass der Mann sich irgendwo da draußen versteckt hielt, sich von seinen Verletzungen erholte und neue Kraft sammelte, bis er wieder der Alte war. Und dann würde er zurückkommen.
    Ga marschierte zu dem Korral. »Ein besseres Texas haben wir nicht«, sagte er zu Buc, kletterte auf den Zaun und hockte sich auf die oberste Planke. Ein einsamer Wasserbüffel war hier eingepfercht. Vereinzelte dicke Regentropfen klatschten auf die Erde, doch dabei blieb es.
    Genosse Buc mühte sich, das Holz in der Feuerstelle in Brand zu setzen, aber es rauchte nur. Auf dem Gatter sitzend beobachtete Ga, wie die Aale im Fischteich nach Luft schnappten; die texanische Flagge, handgemalt auf koreanischer Seide, flatterte im Wind. Die Ranch erinnerte ihn immerhin so stark an Texas, dass er an Dr. Song denken musste. Aber als seine Gedanken zu dem wanderten, was mit Dr. Song passiert war, wirkte die Anlage plötzlich überhaupt nicht mehr wie Amerika. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass der alte Mann nicht mehr da war. Ga sah ihn immer noch vor sich, wie er nachts im Mondschein in Texas gesessen und seinen Hut festgehalten hatte, damit der Wind ihn nicht wegblies. Noch immer hatte er Dr. Songs Stimme im Ohr: Eine wirklich faszinierende Reise, ein einmaliges Erlebnis – das hatte er im Hangar gesagt.
    Genosse Buc goss ein wenig mehr Schweröl auf das Feuer, und eine dunkle Rauchsäule stieg auf.
    »Warte nur, bis der Geliebte Führer mit den Amerikanern kommt«, sagte Buc. »Wenn der Geliebte Führer zufrieden ist, sind alle zufrieden.«
    »Wo du das sagst – meinst du nicht, dass du hier mehr oder weniger fertig bist?«
    »Was denn?«, fragte Buc. »Was meinst du?«
    »Mir scheint, du hast alles besorgt, was dir aufgetragen wurde. Ist es nicht an der Zeit, dass du dich um die nächste Aufgabe kümmerst und das hier aus deinem Gedächtnis streichst?«
    »Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Genosse Buc.
    »Was ist, wenn sich herausstellt, dass der Geliebte Führer nicht zufrieden ist? Was, wenn etwas schiefgeht und er schrecklich unzufrieden ist? Hast du darüber schon mal nachgedacht?«
    »Dafür sind wir doch da«, meinte Buc. »Dass das

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