Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Aftershave!
»Jede Geschichte passt«, meinte einer. »Egal ob gut oder schlecht.«
»Ja«, meinte sein Kumpan. »Für die Inspiration sorgen wir dann schon.«
Letztes Jahr hatten sie sich die Biografie von einer Missionarin unter den Nagel gerissen, die sich mit einer Tasche voller Bibeln aus dem Süden eingeschlichen hatte. Uns wurde befohlen herauszufinden, wem sie Bibeln gegeben hatte und ob sich noch mehr von ihrer Sorte bei uns herumtrieben. Sie war die Einzige, die die Pubjok nicht knacken konnten – bis auf Kommandant Ga, muss ich jetzt wohl sagen. Selbst als ich sie an den Autopiloten anschloss, wich dieses seltsame Lächeln nicht aus ihrem Gesicht. Hinter ihrer dicken Brille sahen ihre Augen riesig aus, und regelrecht milde schweifte ihr Blick durch den Raum. Selbst als der Autopilot sein Maximum erreichte, summte sie noch ein Jesuslied und betrachtete den letzten Raum, den sie je sehen würde, als wäre er von Nächstenliebe erfüllt, als seien in den Augen von Jesus alle Orte gleich, als erkenne sie das nun mit eigenen Augen und sah, dass es gut war.
Nachdem dann die Propaganda-Jungs ihre Geschichte durch die Mangel gedreht hatten, hatte sie sich in eine absurde kapitalistische Spionin verwandelt, die auf nichts anderes aus war, als treue Kinder der Partei zu kidnappen und zu Sklavenarbeit in einer Bibelfabrik in Seoul zu zwingen. Meine Eltern waren vollkommen wild auf diese Geschichte gewesen. Jeden Abend musste ich mir die Zusammenfassung der letzten Folge anhören, die über den Lautsprecher gekommen war.
»Verschwinden Sie, denken Sie sich selbst nordkoreanische Erfolgsgeschichten aus«, sagte ich den Propaganda-Jungs.
»Wir brauchen aber eine wahre Geschichte«, protestierte der eine.
»Nicht vergessen«, fügte der andere hinzu, »diese Geschichten gehören nicht Ihnen, sondern sind Volkseigentum.«
»Wie wär’s mit Ihnen? Ich könnte ja Ihre Biografien aufschreiben«, schlug ich vor, und sie verstanden die Drohung ganz gut.
»Wir kommen wieder«, sagten sie.
Ich steckte den Kopf in den Aufenthaltsraum der Pubjok. Er war leer. Überall standen leere Flaschen herum, sie hatten also die Nacht durchgemacht. Auf dem Boden lag ein Haufen langer schwarzer Haare. Ich hockte mich hin und nahm eine der seidig glänzenden Locken in die Hand. Oh, Q-Ki. Langsam sog ich ihren Duft ein. Ein Blick auf die Tafel verriet mir, dass die Pubjok all meine Fälle bis auf Kommandanten Gaerledigt hatten. Alle Klienten weg. Die ganzen Geschichten verloren.
In dem Moment bemerkte ich Q-Ki in der Tür; sie beobachtete mich. Ihr Haar war tatsächlich kurzgeschoren, und sie trug ein pubjokbraunes Hemd, Uniformhosen und dazu die schwarzen Cowboystiefel von Kommandant Ga.
Ich ließ die Haarsträhne fallen und erhob mich.
»Q-Ki«, begrüßte ich sie. »Wie geht’s?«
Sie schwieg.
»Scheint sich ja eine Menge getan zu haben, seit ich zum Erntedienst musste.«
»Das war doch bestimmt freiwillig«, meinte sie.
»Aber natürlich.« Ich zeigte auf den Berg Haare und fügte hinzu: »Ich habe mich gerade als Detektiv betätigt.«
»Um was herauszubekommen?«
Verlegene Stille.
»Sieht aus, als hätten Sie da die Stiefel des Kommandanten an«, sagte ich. »Dafür dürften Sie auf dem Schwarzmarkt ordentlich was bekommen.«
»Die passen ehrlich gesagt ziemlich gut«, meinte sie. »Ich glaube, die behalte ich.«
Ich nickte und bewunderte die Stiefel noch ein bisschen. Dann sah ich ihr in die Augen.
»Sind Sie noch meine Praktikantin?«, fragte ich. »Sie haben doch nicht etwa die Seiten gewechselt, oder?«
Sie streckte mir die Hand entgegen. Darin hielt sie einen gefalteten Zettel.
»Ich übergebe Ihnen gerade das hier, oder nicht?«
Ich faltete den Zettel auseinander. Es war eine Art Karte, von Hand skizziert. Ein Pferch, eine Feuerstelle, Angelruten, Pistolen. Manche Wörter waren auf Englisch; das Wort »Texas« konnte ich trotzdem entziffern.
Q-Ki sagte: »Das habe ich im rechten Stiefel gefunden.«
»Was ist das, was meinen Sie?«, fragte ich.
»Das könnte der Ort sein, wo wir unsere Diva finden.« Q-Ki wandte sich zum Gehen, doch dann sah sie sich noch einmal nach mir um. »Wissen Sie, ich habe all ihre Filme gesehen. Die Pubjok scheinen gar keinen Wert darauf zu legen, Sun Moon zu finden. Und Ga, oder wer auch immer das ist, konnten sie auch nicht zum Reden bringen. Aber Sie werden Resultate liefern, nicht wahr? Sie werden Sun Moon finden. Sie braucht ein ordentliches Begräbnis. Resultate – das
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