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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Kopf abschlagen?«
    »Es geht um mehr«, entgegnete Q-Ki.
    »Trotzdem, tolle Spezialeffekte«, meinte Jujack. »Wie SunMoons Kopf davonrollt und aus jedem Fleckchen Boden, auf den das Blut spritzt, Märtyrerblumen wachsen und erblühen – Junge, war der Film spannend.«
    Den Film kannte natürlich jeder. Sun Moon spielt darin ein armes Mädchen, das mutig dem japanischen Offizier gegenübertritt, der das Regiment über ihr Bauerndorf führt. Die Bauern müssen den Japanern ihre gesamte Ernte abliefern, doch dann fehlt etwas vom Reis, und der Offizier befiehlt, dass alle hungern müssen, bis der Schuldige ermittelt ist. Sun Moon lässt sich von dem Offizier nicht einschüchtern und sagt ihm, dass seine eigenen korrupten Soldaten den Reis gestohlen haben. Für diesen Affront lässt der Offizier sie auf dem Dorfplatz enthaupten.
    »Worum es in dem Film tatsächlich geht, oder was mein Vater dachte, worum es geht, spielt ja keine Rolle«, sagte Q-Ki. »Sun Moon war von lauter mächtigen Männern umringt, und trotzdem blieb sie vollkommen furchtlos. Das habe ich mir gemerkt. Ich habe gesehen, mit welchem Mut sie ihr Schicksal annahm. Ich habe gesehen, wie sie sich dasselbe Recht nahm, das für die Männer gilt. Dass ich jetzt hier bin, in Abteilung 42, das verdanke ich ihr.«
    »Oh, die Szene, wo sie niederkniet, um das Schwert zu empfangen«, sagte Jujack, als habe er es genau vor Augen. »Ihr Rücken biegt sich durch, ihre schwere Brust wogt. Dann lösen sich ihre perfekten Lippen voneinander, und ganz, ganz langsam schließen sich ihre Lider.«
    In dem Film reiht sich eine berühmte Szene an die andere, beispielsweise wie die alten Frauen im Dorf die ganze Nacht wach bleiben, um den wunderschönen Chosŏnot zu nähen, den Sun Moon bei ihrer Hinrichtung tragen soll. Oder wie Sun Moon in der dunkelsten Stunde der Nacht von Angst gepackt wird und in ihrem Entschluss wankt und dann einSperling mit Kimilsungie-Blüten im Schnabel zu ihr fliegt, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht allein ist und ihr Opfer nicht vergebens. Mir ist vor allem eine Stelle in Erinnerung. An der bleibt bei niemandem das Auge trocken: Die Szene am Morgen, als ihre Eltern sich von ihr verabschieden. Sie sagen ihr, was bisher ungesagt geblieben ist – dass ihre Tochter ihrem Leben Sinn gibt, dass ihre Existenz ohne sie weniger wert sein wird und dass ihre Liebe zwecklos ist, wenn sie sie ihr nicht schenken können.
    Ich blickte zu Q-Ki hinüber, die tief in Gedanken dasaß, und wünschte einen Moment lang, wir stünden nicht kurz davor, die verwesten Überreste ihrer Heldin zu entdecken.
    Die Krähe verließ die Straße und lenkte in eine Senke – eine gigantische Pfütze, so weit das Auge reichte. Als ich mich verwundert an den Fahrer wandte, wies er auf die Karte, die ich ihm gegeben hatte: »Wir sind da.«
    Wir schauten aus der offenen Rückseite der Krähe. Es zuckte weiß über den Himmel.
    Jujack meinte: »In dieser Suppe holen wir uns alle die Diphtherie! Hört mal, ich wette, hier draußen finden wir sowieso nichts, wir jagen bestimmt nur einem Phantom nach.«
    »Das wissen wir erst, wenn wir uns an die Arbeit machen«, entgegnete ich.
    »Aber wir verschwenden bestimmt nur unsere Zeit«, protestierte Jujack. »Ich meine, was ist, wenn sie in letzter Minute alles weggeholt haben?«
    »Wie meinst du das, weggeholt?«, fragte Q-Ki. »Weißt du was, was du uns nicht verrätst?«
    Jujack blickte argwöhnisch zum immer düsterer werdenden Himmel hoch.
    Q-Ki ließ nicht locker. »Du weißt was, stimmt’s?«
    »Es reicht«, ging ich dazwischen. »Es ist nur noch ein paar Stunden hell.«
    Wir sprangen aus der Krähe ins knöcheltiefe Wasser; Fäkalienschaum trieb zwischen schillernden Ölschlieren. Schlammiges Wasser, soweit das Auge reichte. Die längst durchweichte Zeichnung verwies auf eine Baumgruppe. Auf dem Weg dorthin testeten wir mit unseren Schaufeln den Boden. Zwischen uns wälzten sich Flussaale durch die Pfütze; armdicke, mit Zähnen bewehrte Muskelstränge waren diese Viecher, manche zwei Meter lang.
    Wie sich herausstellte, saßen die Bäume voller Schlangen. Mit herabbaumelnden Köpfen beobachteten sie, wie wir von einem Stamm zum nächsten platschten. Genau wie in meinen Albträumen – als würden mich jetzt die Schlangen aus meinem Schlaf heimsuchen. Oder war es andersherum? Würden mich diese Schlangen heute Nacht wieder besuchen? Bloß nicht. Tagsüber kann ich ja so einiges wegstecken. Aber wenn es dunkel wird, möchte

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