Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Sie dabei Ihr Herz sprechen. Ist ein verwöhntes Mädchen aus Amerika nicht vollkommen überfordert von den großartigen Eingebungen, zu denen Ihr gewaltiger Geist fähig ist? Ist dieses aus einem Land der Korruption und Habgier stammende Mädchen in der Lage, dieReinheit Ihrer Weisheit zu begreifen? Ist sie Ihrer wert, oder sollte man sie nicht nach Hause schicken, damit eine richtige Frau ihren Platz einnehmen kann?«
Der Geliebte Führer langte hinter den Tresen. Er reichte Sun Moon ein Stück Seife, einen Kamm sowie einen Chosŏnot , der aus reinem Gold geschneidert schien.
»Genau das sollst du mir sagen«, erklärte er.
*
Bürger, seid Zeuge der Gastfreundschaft, die unser Geliebter Führer allen Völkern der Welt angedeihen lässt, selbst einer Staatsbürgerin der despotischen Vereinigten Staaten von Amerika! Die edelste Frau unserer Nation entsendet der Geliebte Führer, um dieser ungeratenen Amerikanerin Trost und Hilfe zu spenden! Und so trifft Sun Moon in einem wunderschönen Raum auf das Rudermädchen, frisch und weiß und hell erleuchtet, mit einem entzückenden kleinen Fenster, aus dem der Blick auf eine herrliche nordkoreanische Wiese mit umhertollenden Apfelschimmeln geht. Denn wir befinden uns nicht im schäbigen China und auch nicht im schmutzigen Südkorea – ihr dürft euch also keine Gefängniszelle mit lampenrußgeschwärzten Wänden und rostgefärbten Pfützen auf dem Boden vorstellen. Seht stattdessen die große weiße Badewanne mit goldenen Löwenfüßen, angefüllt mit dem dampfenden, heilkräftigen Wasser des Taedong.
Sun Moon ging auf die Ruderin zu. Sie war zwar jung, doch ihre Haut hatte unter der Sonne und dem Seewasser gelitten. Ihr Wille aber schien stark – vielleicht hatte ihr Leben in dem Jahr, das sie als Gast unserer großen Nation verbringen durfte, Sinn und Ziel gefunden. Zweifellos war es das einzige Jahr der Keuschheit gewesen, das diese Amerikanerinje gekannt hatte. Sun Moon half ihr beim Auskleiden und nahm die Kleidungsstücke der Riesin entgegen. Breite Schultern hatte die junge Frau und feste Muskelstränge am Nacken. Den Oberarm der Ruderin zeichnete eine kleine kreisrunde Narbe. Als Sun Moon diese berührte, sprach die Amerikanerin Worte, die Sun Moon nicht verstand. Doch der Gesichtsausdruck des Rudermädchens verriet, dass dieses Mal auf ihrer Haut etwas Gutes repräsentierte, wenn es eine derartige Verletzung denn geben konnte.
Die Amerikanerin lehnte sich ins Wasser zurück, und Sun Moon setzte sich ans Kopfende der Wanne. Mit der Schöpfkelle benetzte sie Strähne für Strähne das dunkle, glatte Haar der Ruderin. Die Haarenden waren gespalten und müssten geschnitten werden, doch Sun Moon hatte keine Schere. Stattdessen massierte sie ihr Seife in die Kopfhaut, bis es schäumte. »Du also bist die Frau, die Einsamkeit erträgt, die alles überlebt«, sagte Sun Moon, während sie ausspülte, erneut einseifte und wieder ausspülte. »Das Mädchen, das die Männer beschäftigt. Du bist eine Frau, die kämpft, richtig? Du erkundest die Einsamkeit? Du musst ja glauben, dass wir in unserem glücklichen kleinen Land des Überflusses überhaupt nicht wissen, was Not ist. Vielleicht hältst du mich für ein Püppchen auf einem Regal in einem Yangban -Wohnzimmer. Glaubst, dass mein Leben ein reines Garnelen- und Pfirsichfest ist, bis ich mich schließlich an die Strände von Wŏnsan zurückziehe.«
Sun Moon wechselte zum Fuß der Wanne und begann, die langen Zehen und klobigen Füße der Ruderin zu waschen. »Meine Großmutter war eine große Schönheit«, erzählte sie. »Während der Besatzung wurde sie zur Trostfrau für den Taish¯o-Kaiser bestimmt, den dekadenten Vorgänger von Hirohito. Der Diktator war kleinwüchsig und kränklich undtrug eine dicke Brille. Meine Großmutter war in einer Festung am Meer eingesperrt, wo sie der Kaiser am Ende jeder Woche besuchte. Dort tat er ihr Gewalt an, am Fenster in einem Erker, von wo aus er mit dem Fernglas zugleich seine Flotte beobachten konnte. Sein Drang, sie zu unterjochen, war so groß, dass der böse kleine Mann von ihr verlangte, sie müsse so tun, als sei sie glücklich.«
Sun Moon seifte der Ruderin die sehnigen Fußgelenke und dünn gewordenen Waden ein.
»Als meine Großmutter versuchte, aus dem Fenster zu springen, versuchte der Kaiser, sie mit einem Tretboot aufzumuntern, das aussah wie ein Schwan. Dann kaufte er ihr ein mechanisches Pferd, das auf einer metallenen Schiene um eine Stange lief. Als sie
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