Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
bei den starken Worten Sun Moons konnte auch sie sich nicht mehr zurückhalten. Die Ruderin begann, mit Nachdruck zu sprechen, als wolle sie Sun Moon etwas Wesentliches begreifbar machen. Die Amerikanerin trat an einen kleinen Tisch mit einer Lampe und vielen Schreibheften. Sie brachte dem Filmstar eines der inspirierenden Werke Kim Jong Ils – ein klarer Versuch, Sun Moon zu der einzigen Weisheit zu führen, die ihren Kummer lindern konnte. Die Ruderin schüttelte das Buch und begann dann in raschem Tempo zu sprechen, doch Sun Moon konnte die sich überschlagenden Worte unmöglich verstehen.
    Bürger – was gab diese arme amerikanische Ruderin da von sich? Ein Dolmetscher war nicht nötig; zu unmissverständlich war ihre Verzweiflung darüber, dass sie Nordkorea verlassen sollte, ihre liebgewonnene zweite Heimat. Niemand benötigte ein Wörterbuch, um die Trostlosigkeit zu verstehen, dass sie aus diesem Paradies fortgerissen werden sollte, in dem Essen, Wohnung und ärztliche Versorgung umsonst sind. Bürger – spürt ihre Trauer darüber, dass sie in ein Land zurückkehren soll, wo Ärzte werdende Mütter mit Ultraschallgeräten verfolgen. Spürt ihre Empörung darüber, dass sie in ein von Verbrechen geplagtes Land zurückgeschickt werden soll, wo Materialismus und Ausgrenzung herrschen, wo große Teile der Bevölkerung untätig im Gefängnis sitzen, von Urin durchweicht in der Gosse liegen oder auf den von Jogginghosen polierten Bänken der Megakirchen sinnloses Geschwätz über Gott von sich geben. Stellt euch die gewaltigen Schuldgefühle der jungen Frau vor, nachdem sie erfahren musste, wie die Amerikaner, ihr eigenes Volk, unsere große Nation in einem imperialistischen Überraschungskrieg verwüstet hat. Doch verzweifle nicht, Rudermädchen, selbst diese kleine Kostprobe nordkoreanischen Mitgefühls und Großmuts wird dir während der dunklen Zeit nach deiner Rückkehr in das unzivilisierte Land von Uncle Sam Beistand leisten.

ALS ICH IN ABTEILUNG 42 anlangte, war ich müde. Die vergangene Nacht hatte ich nicht gut geschlafen. Schwarze Schlangen hatten meine Träume bevölkert; ihr Zischen klang wie die Laute, die das Bauernpaar beim Geschlechtsakt von sich gegeben hatte. Aber warum Schlangen? Warum plagten mich diese Schlangen mit ihrem vorwurfsvollen Blick und den Giftzähnen? Bisher hatte mich noch nie ein Klient, den ich in den Autopiloten gesteckt hatte, bis in den Schlaf verfolgt. Im Traum hielt ich das Mobiltelefon des Kommandanten Ga in Händen, und ständig zeigte es neue Fotos von einer lächelnden Ehefrau und fröhlichen Kindern. Nur waren das meine Frau und meine Kinder – die Familie, die ich schon immer meinte haben zu müssen – ich musste lediglich ihren Aufenthaltsort herausfinden und mich durch das Schlangennest zu ihnen durchkämpfen.
    Doch wie war der Traum zu verstehen? Genau das konnte ich nicht ergründen. Wenn doch nur jemand ein Buch schriebe, das dem Durchschnittsbürger half, die Geheimnisse eines Traums zu ergründen. Offiziell nahm die Regierung keine Stellung zu dem, was geschah, während die Bürger des Landes schliefen, doch findet sich nicht ein Teil des Träumers in seinem Traum wieder? Und was war mit dem ewig langen Wachtraum, den ich unseren Klienten verschaffte, wenn ich sie an den Autopiloten anschloss? Stundenlang habe ich schon dagesessen und sie in diesem Zustand beobachtet – der verschwommene Blick ihrer hin und her huschenden Augen, die Babysprache, das Umhertasten, die Art, wie sie ständig nach etwas greifen, was sie in weiter Ferne zu erblicken scheinen. Und dann die Orgasmen, von denen die Ärzte behaupten, es seien in Wirklichkeit Krämpfe. So oder so, irgendetwas Tiefgreifendes spielt sich in diesen Leuten ab. Am Schluss erinnern sie sich nur noch an den eisigen Berggipfel und die weiße Blume, die dort blüht. Lohnt es sich, ein Ziel zu erreichen, wenn man sich nicht an die Reise erinnern kann? Ich meine schon. Lohnt es sich, ein neues Leben zu leben, wenn man sich an das alte nicht erinnert? Umso besser, finde ich.
    Bei der Arbeit stieß ich auf zwei Typen von der Propaganda-Abteilung. Sie schnüffelten in unserer Bibliothek herum, auf der Suche nach einer guten Story – einer, mit der man das Volk inspirieren konnte, meinten sie.
    Ich hatte nicht vor, sie noch einmal auch nur in die Nähe unserer Biografien zu lassen.
    »Wir haben keine guten Geschichten«, erklärte ich.
    Waren das Lackaffen, mit ihren goldgefassten Zähnen und dem chinesischen

Weitere Kostenlose Bücher