Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
versuchte, sich auf das schartige Riff im Meer zu stürzen, war ein Hai aus der Tiefe heraufgestiegen. Halte aus , sprach der Hai. Ich muss jeden Tag auf den Meeresgrund hinabtauchen, um mein Essen zu suchen – gewiss kannst auch du überleben. Als sie ihren Hals in das Räderwerk des Karussell-Pferdes steckte, setzte sich ein Fink neben sie und flehte sie an weiterzuleben. Ich muss um die ganze Welt fliegen, um meine winzigen Körner zu finden – gewiss hältst auch du noch einen weiteren Tag aus. Sie starrte die Wände an und wartete auf den Kaiser. Während sie den Mörtel betrachtete, der die Mauersteine zusammenhielt, dachte sie: Ein wenig länger halte ich noch aus. Der Geliebte Führer hat ihre Geschichte in ein Drehbuch für mich verwandelt, daher weiß ich, wie sich meine Großmutter fühlte. Ich habe ihre Worte gekostet, ich habe an ihrer Seite gestanden und auf das Eintreffen des japanischen Kaisers gewartet.«
Sun Moon bedeutete der Ruderin aufzustehen und wusch das Mädchen von oben bis unten, wie ein riesenhaftes Kind, bis die Haut über dem grauschlierigen Wasser glänzte. »Unddie Entscheidungen, die meine eigene Mutter zu treffen hatte – darüber kann ich nicht einmal sprechen. Dass ich in der Welt allein dastehe, meiner Geschwister beraubt, ist Folge der Entscheidungen, die sie treffen musste.«
Auf den Armen und dem Rücken des Rudermädchens waren Sommersprossen. Sun Moon hatte noch nie welche gesehen. Vor nur einem Monat hätte sie sie als Schönheitsfehler betrachtet, als Makel auf einer ansonsten ebenmäßigen Haut. Doch nun schienen ihr die Sommersprossen zu sagen, dass eine Haut wie aus Pjöngjang-Porzellan nicht die einzige Art von Schönheit ist, die es auf der Welt gibt. »Vielleicht überspringt die Not ja meine Generation«, erzählte Sun Moon weiter. »Mag sein, dass ich kein echtes Leid kenne, den Kopf habe ich auch noch nicht in ein Räderwerk gesteckt, und ich bin nicht im Dunkeln um die Welt gerudert. Vielleicht bleibe ich ja vom Leid unberührt.«
Sie schwiegen, während Sun Moon der Ruderin aus der Wanne half, und sie sprachen auch nicht, während sie die Amerikanerin abtrocknete. Der aus Goldfäden gewirkte Chosŏnot war atemberaubend. Sun Moon kniff hier und dort Falten in den Stoff, bis das Kleid perfekt fiel. Schließlich begann sie, das Haar der Ruderin zu einem Zopf zu flechten. »Ich weiß sehr wohl, dass das Leben auch für mich Leid bereithält«, sagte sie. »Jeder kommt einmal an die Reihe. Vielleicht ist es schon morgen so weit. Was ihr wohl tagein, tagaus in Amerika erduldet, ohne eine Regierung, die euch beschützt, ohne jemanden, der euch sagt, was ihr tun sollt? Stimmt es, dass ihr keine Lebensmittelscheine bekommt, dass ihr selbst für euer Essen sorgen müsst? Stimmt es, dass eure Arbeit keinem höheren Zweck dient als dem Erwerb von Papiergeld? Was ist Kalifornien, dieser Ort, aus dem du stammst? Ich habe noch nie ein Bild davon gesehen. Was wird über eure Lautsprecher verkündet, wann geht bei euch abends der Strom aus, welche kollektive Kindererziehung wird in euren Einrichtungen gelehrt? Wohin geht eine Frau mit ihren Kindern am Sonntagnachmittag, und woher weiß sie, dass die Regierung ihr einen guten Ersatzehemann zuweisen wird, wenn sie den ersten verliert? Bei wem schmeichelt sie sich ein, um sicherzustellen, dass ihre Kinder den besten Jungscharführer bekommen?«
An diesem Punkt bemerkte Sun Moon, dass sie das Rudermädchen bei den Handgelenken gepackt hielt und ihr diese letzten Fragen geradezu entgegengeschleudert hatte, direkt in das Gesicht mit den aufgerissenen Augen. »Wie funktioniert eine Gesellschaft ohne einen väterlichen Führer?«, flehte Sun Moon sie an. »Wie kann eine Bürgerin wissen, was für sie das Beste ist, wenn nicht eine gütige Hand sie leitet? Ist das nicht das Schwierigste – zu lernen, wie man allein durch solche Gefilde steuert? Ist das nicht Überlebenskunst?«
Das Rudermädchen entzog ihr die Hände und wies in eine unbekannte Ferne. Sun Moon hatte das Gefühl, sie fragte nach dem Ausgang der Geschichte, danach, was aus der Trostfrau des Kaisers geworden sei, seiner privaten Gisaeng . »Meine Großmutter wartete, bis sie älter war«, erzählte Sun Moon. »Sie wartete, bis sie wieder in ihrem Dorf war und all ihre Kinder groß und verheiratet waren, und dann zog sie das lange verborgene Messer aus der Scheide und stellte ihre Ehre wieder her.«
Was auch immer dem Rudermädchen durch den Kopf gehen mochte –
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