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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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soll sich das Volk noch fragen, wie es kommt, dass unsere Volksschauspielerin verschwunden ist? Und was ist mit unserem Volkshelden, dem Träger des Goldgurts? Wie lange kann der Geliebte Führer sich weigern einzugestehen, dass beide auf geheimnisvolle Weise verschwunden sind?«
    »Meinst du nicht, dass der Geliebte Führer seine Gründe dafür hat?«, fragte mich Sarge. »Und nur dass das klar ist: Die Geschichten der Leute erzählst nicht du, sondern der Staat. Wenn ein Bürger etwas tut, das erzählt werden sollte, ob gut oder schlecht, dann ist das die Sache des Geliebten Führers und seiner Vertrauten. Nur ihnen steht es zu, Geschichten zu erzählen.«
    »Ich erzähle die Geschichten der Leute doch gar nicht. Mein Beruf ist es, zuzuhören und alles aufzuschreiben. Und falls Sie diese Propaganda-Typen meinen: Sobald die den Mund aufmachen, kommt eine Lüge heraus.«
    Sarge starrte mich hocherstaunt an, als werde ihm jetzt erst klar, welcher Abgrund uns voneinander trennte. »Deine Aufgabe –«, setzte er an. Dann schien er etwas anderes sagen zu wollen. Ununterbrochen schlackerte er dabei mit den Händen, als wolle er den Schmerz herausschütteln. Schließlich wandte er sich zum Gehen; in der Tür verharrte er einen Moment.
    »Ich wurde auf der Basis da ausgebildet«, sagte er. »Bei Gewitter sollte man um Namp'o einen weiten Bogen machen.«
    Als er weg war, rief ich die Zentrale Fahrbereitschaft an und bestellte ein Fahrzeug, das uns nach Namp'o bringen sollte. Dann sammelte ich Q-Ki und Jujack ein. »Besorgen Sie Regenmäntel und Schaufeln«, trug ich ihnen auf. »Wir gehen eine Schauspielerin holen.«
    *
    Es stellte sich heraus, dass das einzige Fahrzeug, das uns in dem Regen nach Namp'o schaffen konnte, ein alter sowjetischer Militärtransporter war. Als er vor uns hielt, machte der Fahrer nicht gerade ein fröhliches Gesicht, denn irgendwer hatte seine Scheibenwischer gestohlen. Jujack schüttelte nur den Kopf und wich zurück.
    »Kommt nicht in Frage«, sagte er. »Mein Vater hat mir gesagt, ich soll nie im Leben in eine Krähe steigen.«
    Q-Ki hielt eine Schaufel in der Hand. »Halt’s Maul und steig ein«, sagte sie.
    Bald darauf befanden wir drei uns auf dem Weg in Richtung Westen, genau auf das Gewitter zu. Die dunkle Plane aus Öltuch hielt den Regen gut ab; nur zwischen den Bodenlatten spritzte schlammiges Wasser hoch. In die Sitzbänke hatten Leute ihre Namen geritzt – wahrscheinlich auf dem Weg in weit entfernte Gefängnisbergwerke wie Lager 22 oder 14-18. Auf einer solchen Reise hat man viel Zeit zum Nachdenken. So groß also war das Bedürfnis des Menschen, nicht vergessen zu werden.
    Q-Ki fuhr mit den Fingern die Schriftzeichen nach; ein Name hatte es ihr besonders angetan.
    »Ich kannte mal einen Yong Yap Nam«, sagte sie. »Er war in meinem Kurs über die Übel des Kapitalismus.«
    »Das war bestimmt ein anderer Yong Yap Nam«, beruhigte ich sie.
    Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn einer zum Verräter wird, ist er ein Verräter. Was erwartet er dann?«
    Jujack mochte die Namen überhaupt nicht anblicken. »Warum warten wir nicht bis nach dem Gewitter?«, fragte er ein ums andere Mal. »Was bringt es denn, jetzt rauszufahren? Wahrscheinlich finden wir gar nichts. Wahrscheinlich gibt’s da überhaupt nichts.«
    Der Wind zerrte an der schwarzen Plane und ließ die Metallstreben ächzen. Sturzbäche von Wasser schossen von der Straße über die Schmutzwassergräben hinweg. Auf den Schaufelstiel gestützt starrte Q-Ki auf die beiden Spuren, die die Lkw-Reifen durch das Wasser zogen. Sie fragte mich: »Sie glauben doch nicht, dass Sun Moon abtrünnig geworden sein könnte, oder?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«
    »Ich will Sun Moon ja schon gerne finden«, sagte sie. »Aber dann ist sie tot. Solange unsere Schaufeln sie nicht freilegen, ist es, als wäre sie noch am Leben.«
    Tatsächlich sah ich Sun Moon noch immer als die strahlende Frau auf den Filmplakaten vor mir, wenn ich mir vorstellte, wie wir sie fänden. Jetzt erst stieg vor meinem inneren Auge ein anderes Bild auf: Wie meine Schippe Teile halbverwester Kinder aus dem Boden hebt, wie sich das Schaufelblatt in die Bauchhöhle einer Leiche senkt.
    »Als ich noch ein Mädchen war, ist mein Vater mit mir Ruhm und Glorie anschauen gegangen. Ich hatte viel Unsinn verzapft, und mein Vater wollte, dass ich sehe, was mit Frauen passiert, die sich nicht unterordnen.«
    Jujack fragte: »Ist das der Film, wo sie Sun Moon den

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