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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ist die Seite, auf der ich stehe.«
    *
    Ich studierte die Karte eingehend. Ich hatte sie auf der Tischtennisplatte der Pubjok ausgebreitet und brütete gerade über den Wörtern und Strichen, als Sarge reinkam. Er war klatschnass.
    »Na, haben Sie Ersäufen gespielt?«, begrüßte ich ihn.
    »Stell dir vor, es regnet«, entgegnete er. »Vom Gelben Meer zieht ein Riesensturm auf.«
    Sarge rieb die Hände aneinander. Er lächelte, aber ich wusste, dass sie ihm weh taten.
    Ich wies auf die Tafel. »Wie ich sehe, hat’s ein Massengeständnis gegeben, während ich außer Haus war.«
    Sarge zuckte mit den Schultern. »Wir haben eine komplette Pubjok-Mannschaft mit mehr als genug Zeit. Und auf der anderen Seite standest du da, mit zehn offenen Fällen, nur du und zwei Praktikanten. Wir wollten uns nur ein wenig solidarisch erweisen.«
    »Solidarisch?«, fragte ich. »Wo ist Leonardo abgeblieben?«
    »Wer?«
    »Mein Teamvize, das Milchgesicht. Einen Abend ging er hier weg, und seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht. Wie all die anderen, die früher zu meinem Team gehörten.«
    »Du willst, dass ich eines der Mysterien des Lebens aufkläre«, sagte er. »Wer kann schon sagen, wo Leute abbleiben? Warum fällt der Regen runter und nicht rauf? Warum wurde die Schlange hinterlistig geschaffen und der Hund bösartig?«
    Nahm er mich auf den Arm? Keine Ahnung. Sarge war sonst nicht gerade philosophisch veranlagt. Und seit Leonardo verschwunden war, war er eigenartig höflich zu mir.
    Ich wandte mich wieder der groben Bleistiftskizze des texanischen Dorfs zu.
    Er stand da und massierte seine Hände. »Meine Knöchel bringen mich um, wenn es regnet.«
    Ich beachtete ihn nicht.
    Sarge blickte mir über die Schulter. »Was hast du da, eine Karte?«
    »So was in der Art.«
    Er sah genauer hin. »Ach ja«, meinte er. »Die alte Militärbasis im Westen der Stadt.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Er zeigte mit dem Finger: »Das ist die Straße nach Namp'o, und das hier, das ist die Stelle, wo der Taedong sich gabelt.« Er wandte sich mir zu. »Hat das was mit Kommandant Ga zu tun?«
    Endlich – der Hinweis, nach dem wir die ganze Zeit gesucht hatten. Die Chance, diesen Fall zu knacken. Ich faltete die Karte zusammen. »Auf mich wartet Arbeit«, sagte ich.
    Sarge hielt mich zurück. »Hör mal«, meinte er, »du brauchst wirklich nicht über jeden Bürger, der hier durch die Tür kommt, ein komplettes Buch zu schreiben.«
    Doch, das musste ich. Niemand sonst würde die Geschichte dieser Leute erzählen, es würde keinen einzigen Beweis geben, dass diese Menschen je existiert hatten. Wenn ich mir aber die Zeit nahm, alles über sie herauszufinden, wenn ich alles aufzeichnete, dann konnte ich mich mit dem, was ihnen hinterher zustieß, abfinden. Der Autopilot, die Gefängnisbergwerke, das Fußballstadion im Morgengrauen. Wenn ich kein Biograf war, wer war ich dann? Worin bestand meine Aufgabe?
    »Kapierst du überhaupt, was ich sage?«, fragte Sarge. »Kein Mensch liest diese Bücher. Die verstauben in einer dunklen Kammer. Also reiß dir doch nicht jedes Mal ein Bein aus. Versuch es mal auf unsere Tour. Klopf ein paar rasche Geständnisse aus ihnen heraus, und dann kommst du rüber und machst ein Bier mit uns auf. Wir lassen dich auch aussuchen, was auf der Karaokemaschine läuft.«
    »Was ist mit Kommandant Ga?«, fragte ich.
    »Was soll mit ihm sein?«
    »Seine Biografie ist die wichtigste von allen.«
    Sarge starrte mich unendlich frustriert an.
    »Zunächst einmal ist das nicht Kommandant Ga«, erklärte er. »Hast du das vergessen? Zum Zweiten hat er kein Wort gesagt. Er hat ein Schmerztraining absolviert – der Heiligenschein hat ihn nicht mal mit der Wimper zucken lassen. Vor allem aber gibt es überhaupt kein Geheimnis.«
    »Natürlich gibt es eins«, entgegnete ich. »Wer ist er? Was ist aus der Schauspielerin geworden? Wo ist ihre Leiche, wo sind die Kinder?«
    »Glaubst du wirklich, die Typen ganz oben –«, und Sarge deutete nach unten zu dem tiefer gelegenen Bunker – »glaubst du, die kennen die wahre Geschichte nicht? Die wissen, wo sich der Besuch der Amerikaner abgespielt hat – sie waren d abei . Glaubst du etwa, der Geliebte Führer weiß nicht, was passiert ist? Ich wette, Sun Moon stand zu seiner Rechten und Kommandant Ga zu seiner Linken.«
    Wozu waren wir dann da?, fragte ich mich. Was untersuchten wir dann, und wozu?
    »Wenn sie die ganzen Antworten schon kennen«, sagte ich, »worauf warten die dann? Wie lange

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