Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Führer«, antwortete sie.
»Ausgezeichnet«, meinte er. »Nun erzähl mir von der Amerikanerin. Wie viele Stücke Seife waren nötig, um unser schmutziges kleines Mädchen sauber zu kriegen?«
Sun Moon hob zu einer Antwort an, doch der Geliebte Führer unterbrach sie: »Nein, sag es mir nicht, noch nicht. Hebe deine Ansichten über sie für später auf. Zuerst muss ich dir etwas zeigen, eine kleine Überraschung, wenn man so will.«
Die beiden machten sich auf den Weg quer durchs Studio. In der Nähe der bombensicheren Filmdepots hatte sich das Pochonbo Electronic Ensemble aufgebaut; das Pop-Orchester spielte seinen neuesten Hit: »Regenbogen der Wiedervereinigung«. Zu dieser Musik tanzten Gabelstapler mit Paletten voller Hungerhilfe für Amerika; hoch hoben sie ihre Last, und perfekt synchronisiert kreisten und wirbelten sie zu der lebhaften Musik vorwärts und rückwärts. Am eindrucksvollsten aber war eine ganze Armee kleiner Akrobaten in bunten Trikots. Jeder der fidelen Kleinen hielt eine Hundert-Liter-Tonne als Tanzpartner in den Armen. Die Kinder ließen die weißen Plastiktonnen rotieren wie Kreisel, völlig schwerelos, und plötzlich – hopp! – sprangen sie selbst synchron auf die Tonnen und rollten sie mit den Füßen zu Gabelstaplern, die sie aufnehmen und in das amerikanische Transportflugzeug verladen würden. Sagt uns, Bürger – wo bekamen die Hungrigen jemals mit so viel Lebensfreude und Präzision zu essen?
Als Sun Moon dreier herrlicher an Schneiderpuppen ausgestellter Chosŏnots ansichtig wurde, schnappte sie überwältigt nach Luft. Sie blieb vor den Kleidern stehen.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie, während sie dasTrio bewunderte. Alle drei Satinkleider schimmerten nahezu metallisch – eines weiß, eines blau, eines rot.
»Oh, das hier –«, gestikulierte der Geliebte Führer – »das ist nicht die Überraschung. Diese Chosŏnots wirst du morgen tragen, du wirst dich in die Farben der Flagge der DVRK kleiden. Den weißen trägst du, wenn wir die Amerikaner begrüßen, den blauen, wenn du deine Blues-Komposition zur Abreise für das Rudermädchen singst. Und den roten, wenn du das Rudermädchen seinem Schicksal in Amerika zuführst. So wird es doch geschehen, nicht wahr? Hast du dich dafür entschieden?«
»Ich darf kein eigenes Kleid tragen?«, fragte sie. »Ich habe es bereits ausgewählt.«
»Ich fürchte, das ist beschlossene Sache«, entgegnete er. »Also bitte, ich will keine Trauermiene sehen!«
Aus seiner Tasche zog er einen Umschlag und überreichte ihn ihr. Darin befanden sich zwei Eintrittskarten. »Was ist das?«, fragte sie.
»Das gehört mit zur Überraschung«, erklärte er. »Eine kleine Kostprobe dessen, was vor dir liegt.«
Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass es sich um offizielle Eintrittskarten für die Premiere von Trostfrau handelte.
»Die sind für nächsten Samstag!«, sagte sie.
»Eine Oper musste dafür abgesagt werden«, erklärte er. »Aber man muss eben Prioritäten setzen, richtig?«
»Mein Film!«, sagte sie und fragte dann ungläubig: »Mein Film wird endlich anlaufen?«
»Ganz Pjöngjang wird anwesend sein«, versicherte der Geliebte Führer. »Falls dein Gatte aus irgendeinem Grund zu einer Mission abberufen werden sollte, würdest du mir dann die Ehre erweisen und mir in meiner Loge Gesellschaft leisten?«
Sun Moon blickte dem Geliebten Führer tief in die Augen. Sie konnte es kaum fassen, dass eine derart mächtige, großmütige Persönlichkeit eine so bescheidene Bürgerin wie sie an seiner Seite haben wollte. Doch vergesst nie, Bürger: Beim Geliebten Führer ist alles möglich. Vergesst nie, dass sein ganzes Streben darauf gerichtet ist, einen jeden und eine jede von euch auf ewig in seine schützenden Arme zu schließen.
»Komm«, sagte der Geliebte Führer. »Das ist noch nicht alles.«
Auf der anderen Seite des Studios entdeckte Sun Moon ein kleines Orchester. Auf ihrem Weg dorthin passierten die beiden unzählige Requisiten, die ihr allesamt bekannt vorkamen: sauber aufgereihte amerikanische Jeeps, Kleiderständer mit GI-Uniformen, die man im Krieg toten Imperialisten ausgezogen hatte. Und dort ein maßstabgetreues Modell des Berges Paektu, Geburtsstätte des glorreichen Führers Kim Jong Il, der bereits bei seiner Geburt der Sonne so nah war! Paektu, möge dein heiliger Gipfel sich dem Himmel allzeit entgegenrecken!
Während sie weiterspazierten, teilte der Geliebte Führer Sun Moon mit: »Nun ist es an der
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