Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
wie wir am Seeufer Janggi gespielt haben? Wir könnten an diesem Wochenende ein Turnier abhalten, und deine Kinder könnten so lange auf meinen Jetskis herumflitzen. Hast du das Brett dabei?«
»Es ist im Wagen«, sagte sie.
Der Geliebte Führer lächelte.
»Wo standen wir?«, fragte er. »Ich kann mich nicht an unseren Punktestand erinnern.«
»Als wir aufhörten, lag ich wohl ein paar Spiele im Rückstand.«
»Du hast mich doch nicht gewinnen lassen?«
»Seien Sie versichert, ich kenne keine Gnade«, entgegnete sie.
»Das ist meine Sun Moon.«
Er wischte ihr die letzten Tränen fort.
»Komponiere ein Abschiedslied für unsere Nachtruderin. Singe, wenn sie uns verlässt. Lege den roten Chosŏnot für mich an, ja? Sag bitte, dass du ihn tragen wirst. Probier ihn einfach an – probier ihn an, und morgen schicken wir das amerikanische Mädchen zurück in die Ödnis, aus der es gekommen ist.«
Sun Moon schlug die Augen nieder. Langsam nickte sie.
Auch der Geliebte Führer nickte langsam. »So ist’s recht«, sagte er sanft.
Dann hob er den Finger, und wer sauste auf einem Gabelstapler heran? Genosse Buc! Schweiß tropfte von seiner Stirn. Würdigt ihn keines Blickes, Bürger! Wendet eure Augen ab von dieser Marionette mit dem Lächeln eines Verräters!
»Damit das Schamgefühl von Sun Moon nicht verletzt wird«, sagte der Geliebte Führer, »ist am Flughafen eine Umkleidekabine für sie nötig.«
Genosse Buc atmete tief ein. »Nur das Beste vom Besten!«, antwortete er.
Der Geliebte Führer nahm Sun Moon beim Arm und dirigierte sie zu den Lichtern und der Musik zurück.
»Komm«, sprach er. »Einen letzten Film muss ich dir noch zeigen. Der Besuch der Amerikaner hat mich über Cowboys und Selbstjustiz nachdenken lassen. Also habe ich einen Western geschrieben. Du wirst die langmütige Ehefrau eines texanischen Viehhirten spielen, der von den kapitalistischen Grundbesitzern ausgebeutet wird. Als ein korrupter Sheriff den Cowboy beschuldigt, Rinder gestohlen zu ...«
Sie fiel ihm ins Wort.
»Versprechen Sie mir, dass ihm nichts zustoßen wird!«, bat Sun Moon.
»Wem? Dem Viehhirten?«
»Nein, meinem Gatten. Oder wer auch immer er sein mag. Er hat ein gutes Herz.«
»In dieser Welt«, entgegnete der Geliebte Führer, »kann niemand so etwas versprechen.«
KOMMANDANT GA stand rauchend auf dem Balkon; mit zusammengekniffenen Augen suchte er die dunkle Straße nach dem Auto ab, das ihm Sun Moon wiederbringen würde. In der Ferne war Hundegebell aus dem Zoo zu hören, und er musste an einen Hund am Strand denken, der vor langer Zeit einmal bellend in der Brandung gestanden und auf jemanden gewartet hatte, der nie zurückkehren würde. Es gibt Menschen, die in dein Leben kommen und dich alles kosten. In dieser Hinsicht hatte die Frau von Genosse Buc völlig recht. Es war ein furchtbares Gefühl gewesen, einer dieser Menschen zu sein. Er war der Mensch gewesen, der andere wegriss. Er war der gewesen, der weggerissen wurde. Er war auch schon derjenige gewesen, der zurückgelassen worden war. Als Nächstes würde er herausfinden, wie es war, alles drei zugleich zu sein.
Er drückte die Zigarette aus. Auf dem Balkongeländer lagen vereinzelte Selleriesamen von der Singvogelfalle des Jungen. Ga rollte sie unter den Fingern hin und her, während er hinunter auf eine Stadt schaute, unter deren schwarzer Oberfläche sich ein Labyrinth grell erleuchteter Bunker verbarg. In einem davon, so fürchtete er, saß Sun Moon. Wer hatte sich eine solche Stadt ausgedacht? Wessen Fantasie war sie entsprungen? Wie lächerlich die Vorstellung eines Quilts für Genosse Bucs Frau gewesen war. Nach welchem Muster, aus welchem Stoff würde man die Geschichte eines Lebens an einem Ort wie diesem zusammensetzen? Wenn er eines über den echten Kommandanten Ga gelernt hatte, seit er dessen Kleider trug und in seinem Bett schlief, dann, dass er ein Produkt seiner Umgebung war. In Nordkorea wurde man nicht zu etwas geboren, man wurde zu etwas gemacht, und der Große Macher leistete an diesem Abend Überstunden. Die vereinzelten Selleriekörner auf dem Geländer führten zu einem ganzen Häufchen. Im Zeitlupentempo streckte Ga die Hand danach aus. Er fragte sich, woher Genosse Bucs Frau die innere Ruhe angesichts dieser Lage nahm. Woher wusste sie so genau, was zu tun war? Urplötzlich zuckte ein Zweiglein, ein Kiesel fiel herab, Nähseide spannte sich, und schon hatte sich eine kleine Schlinge um Gas Finger zugezogen.
Er durchsuchte
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