Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
weil meine Mutter nicht zur Premiere von Trostfrau kommen kann«, schluchzte sie. »Seit sie sich in Wŏnsan zur Ruhe gesetzt hat, hat sie nicht geschrieben, nicht ein einziges Mal. Ich stelle mir gerade vor, wie sie zur Premiere für Trostfrau kommt und die Geschichte ihrer eigenen Mutter in Großformat auf der Leinwand sieht.«
»Sorge dich nicht, ich werde das in Ordnung bringen. Deiner Mutter fehlt wahrscheinlich nur Schreibmaschinenpapier, oder die Briefmarkenlieferungen an die Ostküste haben sich verzögert. Ich werde heute Abend noch telefonieren. Glaube mir, ich kann alles wahr machen. Morgen wirst du noch vor Sonnenuntergang maschinengeschriebene Briefe von deiner Mutter in Händen halten.«
»Ist das wahr?«, fragte sie. »Können Sie wirklich alles wahr machen?«
Mit dem Daumen wischte der Geliebte Führer ihr die Tränen ab. »Kaum zu glauben, wie du dich entwickelt hast«, sagte er. »Manchmal vergesse ich das. Weißt du noch, wie ich dich das erste Mal erblickte?« Er schüttelte den Kopf beim Gedanken an diesen weit zurückliegenden Augenblick. »Selbst den Namen Sun Moon hattest du damals noch nicht.« Er schob ihr das Haar zur Seite und berührte ihr Ohr. »Denkedaran, dass du vor mir keine Geheimnisse hast. Dafür bin ich da, ich bin derjenige, dem du dich offenbarst. Sage mir nur, was du brauchst.«
»Bitte«, flehte sie. »Schenken Sie mir die Freude, die Premiere zusammen mit meiner Mutter zu erleben.«
Bürger, Bürger. In unserer Kultur respektieren wir unsere älteren Mitbürger; in ihren letzten Lebensjahren gönnen wir ihnen die nötige Ruhe und Zurückgezogenheit. Haben sie nach ihrem arbeitsreichen Leben nicht ein wenig Müßiggang verdient? Kann die größte Nation auf Erden ihren Ältesten nicht ein wenig Erholung gönnen? Natürlich wünschen wir uns alle, dass unsere Eltern auf ewig rege bleiben, dass sie nie von unserer Seite gehen. Aber hör doch nur, Sun Moon, wie vorwurfsvoll die Zuhörer schon mit der Zunge schnalzen. Siehst du nicht, wie egoistisch es ist, deiner Mutter eine anstrengende Reise aufzubürden, eine, auf der sie dahinscheiden könnte, und das nur zu deinem Vergnügen? Und doch sind wir machtlos, denn wer kann Sun Moon etwas ausschlagen? Für sie gibt es keine Regeln.
»Sie wird in der vordersten Reihe sitzen«, versprach der Geliebte Führer. »Das garantiere ich.«
Bürger, wenn der Geliebte Führer spricht, dann ist die Sache entschieden. Nichts könnte nun noch verhindern, dass Sun Moons Mutter an der Premiere teilnimmt. Nur ein vollkommen unvorhersehbares Ereignis – ein Zugunglück etwa, oder großflächige Überschwemmungen – könnte dem freudigen Wiedersehen noch im Wege stehen. Es müsste schon einen Diphtherie-Ausbruch mit Quarantäne geben oder einen militärischen Überraschungsangriff, dass Sun Moons Träume nicht wahr würden!
Als Zeichen seiner sozialistischen Verbundenheit legte ihr der Geliebte Führer die Hand auf.
»Habe ich mich nicht an sämtliche Regeln gehalten?«, fragte er.
Sie schwieg.
»Ich muss dich wiederhaben«, erklärte er. »Unsere Beziehung soll wieder aufleben.«
»Es war ein Arrangement«, sagte sie.
»Ganz genau, und habe ich meinen Teil denn nicht erfüllt? Habe ich nicht deine Regeln befolgt?«, fragte er. »Dass ich dich niemals zu etwas zwingen würde, ist das nicht Regel Nummer eins? Antworte mir, habe ich mich jemals nicht nach deinem Willen gerichtet? Kannst du mir eine Sache nennen, zu der ich dich gezwungen hätte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Genau«, sagte er und wurde lauter. »Und darum musst du dich dafür entscheiden, zu mir zurückzukommen, du musst jetzt und hier die Entscheidung treffen. Es ist an der Zeit.« Seine Stimme klang scharf, so groß war seine väterliche Sorge. Er atmete einmal kurz durch, und schon breitete sich wieder das charmante Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ja, ja, ich bin sicher, dass du mir mit neuen Regeln kommen wirst – ich weiß schon genau, wie du sie mir mit einem glücklichen Lächeln vorbuchstabieren wirst. Und doch stimme ich ihnen hier auf der Stelle zu; ich akzeptiere all deine neuen Regeln unbesehen.« Weit breitete er seine Arme aus. »Aber komm zurück zu mir. Es wird wieder genau wie früher. Wir spielen mit dem Küchenpersonal ›Kochduell‹, und du hilfst mir beim Öffnen meiner Fan-Post. Wir fahren mit meinem Zug ins Blaue und verbringen die Nacht im Karaoke-Abteil. Vermisst du nicht, wie wir früher neue Sushirollen erfunden haben? Weißt du noch,
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