Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
den Arm geschrieben haben, bevor sie mich im Waisenhaus abgegeben hat, dann ist er verschwunden.«
»Waisenhaus?«, fragte das Mädchen.
»Ein Name ist nicht dasselbe wie eine Person«, sagte Ga. »Behaltet nie nur den Namen von jemandem im Gedächtnis. Damit ein Mensch lebendig bleibt, müsst ihr ihn in euch tragen; ihr müsst sein Gesicht in eurem Herz tragen. Dann ist dieser Jemand immer bei euch, egal wo ihr seid, denn er ist ein Teil von euch.« Er legte ihnen die Hände auf die Schultern. »Wichtig seid ihr, nicht eure Namen. Euch beide, euch werde ich nie vergessen.«
»Du redest, als würdest du weggehen«, sagte das Mädchen.
»Nein«, sagte Ga. »Ich rühre mich nicht vom Fleck.«
Schließlich hob der Junge den Blick. Er lächelte.
Ga fragte: »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei den Spionen aus Amerika«, antwortete der Junge.
TRAURIGE KUNDE, BÜRGER , denn im Alter von einhundertfünfunddreißig Jahren ist euer ältester Genosse verstorben. Wir wünschen dir eine gute Reise ins Jenseits, alter Freund – behalte dein Leben in der zufriedensten, langlebigsten Nation auf Erden in guter Erinnerung! Bürger, nehmt euch heute einen Moment Zeit und unterstützt einen älteren Menschen in eurem Wohnblock mit einer respektvollen Handreichung. Tragt ihm das Eis für den Eisschrank die Treppen hoch oder überrascht ihn mit einem Schälchen Schnittlauchblütensuppe. Aber denkt daran: Nicht zu scharf!
Und nun eine Warnung, Bürger: Finger weg von Ballons, die über die DMZ treiben. Der Minister für Öffentliche Sicherheit hat festgestellt, dass das Gas, das diese Ballons mit ihren Propagandanachrichten fliegen lässt, tatsächlich ein tödliches Nervengift ist, das jeden unschuldigen Zivilisten dahinrafft, der damit in Berührung kommt.
Doch es gibt auch gute Nachrichten, Bürger! Der Scheibenwischerdieb, der die Stadt unsicher gemacht hat, ist gefasst worden! Morgen früh haben alle Bürger im Fußballstadion anzutreten. Und noch mehr gute Nachrichten: Vom Land sind die ersten Hirselieferungen eingetroffen! Holt euch an euren Lebensmittelausgabestellen eine reichliche Ration dieses köstlichen stärkehaltigen Nahrungsmittels. Hirse wirkt nicht nur kräftigend auf die Verdauung, sondern sie unterstützt auch die Männlichkeit. Hirse zu Kaoliang anzusetzen ist in diesem Jahr nicht gestattet. Macht euch auf Inspektionen eurer Steinguttöpfe gefasst.
Doch jetzt zur schönsten Meldung des Tages, Bürger:Gleich beginnt die nächste Folge der Besten Nordkoreanischen Kurzgeschichte! Das Ende dieser Erzählung steht kurz bevor, und schon ruft das Volk nach mehr! Aber eine Fortsetzung wird es nicht geben, Bürger. Das Ende dieser Geschichte ist von ewiger Gültigkeit.
Bürger, vergesst einen Moment lang, dass ihr Vinalon-Kleider näht oder an einer großen Drehbank steht. Ruft euch stattdessen die folgende Szenerie vor Augen: Es ist später Abend, eine hauchfeine Mondsichel steht am Himmel, unter dem Pjöngjang im Schlummer liegt. Ein einzelner Wagen tastet sich mit seinen Lichtstrahlen zwischen den turmhohen Bauten der Stadt hindurch; er fährt gen Norden, in Richtung Flughafen. Vor ihm ragt das Zentrale Filmstudio auf, die größte filmproduzierende Einrichtung der Welt, wo sich Hektar um Hektar Produktionshallen zu beispielloser filmschaffender Kapazität aneinanderreihen. Und eben hier kommt das Fahrzeug zum Halten. Dem Wagen entsteigt niemand anderes als Sun Moon, für die dieses Filmstudio geschaffen wurde.
Die Wellblechtüren öffneten sich ihr, und aus dem Inneren strömte strahlendes Licht. In diesen warmen Schein gebadet erwartete sie kein Geringerer als die charismatischste Persönlichkeit der Welt, Generalissimus Kim Jong Il. Er begrüßte sie mit weit geöffneten Armen, und sie tauschten Gesten sozialistischer Verbundenheit aus.
Kräftig war der Duft texanischer Küche – große Rumpfstücke vom Schwein und eine Nudel, die man Mak-ka-ro-ni nennt. Als der Geliebte Führer Sun Moon hineingeleitete, erwarteten sie Musik, Akrobaten und ein Gabelstapler-Ballett!
»Ich dachte, die überwältigende Begrüßung der Amerikaner soll am Flughafen stattfinden?«, fragte sie.
»Das wird sie auch«, erwiderte der Geliebte Führer. »Aber unsere Vorbereitungen müssen drinnen erfolgen.« Er wies zum Himmel. »Eine Vorkehrung gegen neugierige Blicke.«
Der Geliebte Führer ergriff ihre Arme und drückte sie freundschaftlich. »Du bist gesund, richtig? Dir geht es gut?«
»Mir mangelt es an nichts, Geliebter
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