Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
holte tief Luft. »Ihr müsst ein paar Dinge wissen, wenn ihr die Geschichte verstehen wollt, die ich euch gleich erzähle. Habt ihr schon einmal von einem Erschließungsstollen gehört?«
    »Einem Erschließungsstollen?«, fragte das Mädchen mit angewidertem Blick.
    Ga sagte: »Oder von Uranerz?«
    »Erzähl uns noch eine Hundegeschichte«, sagte der Junge.
    »Ja«, sagte das Mädchen. »Lass ihn diesmal nach Amerika gehen, und da frisst er dann Futter aus der Dose.«
    »Und die Wissenschaftler sollen auch wieder dabei sein!«, ergänzte der Junge.
    Kommandant Ga dachte einen Moment nach. Ob er eine Geschichte zusammenbekam, die ihnen momentan vollkommen normal erschien, in der sie bei späterem Nachdenken aber genau die Botschaft entdeckten, die er ihnen vermitteln wollte?
    »Eine Gruppe von Wissenschaftlern sollte zwei Hunde finden«, begann er. »Einer sollte der klügste Hund in Nordkorea sein, der andere der tapferste. Diese beiden Hunde sollten zusammen auf eine hochgeheime Mission geschickt werden.Die Wissenschaftler klapperten sämtliche Hundehöfe im Land ab, und dann inspizierten sie die Hundezwinger in sämtlichen Gefangenenlagern und auf allen Militärbasen. Als Erstes mussten die Hunde mit der Pfote einen Abakus bedienen. Dann mussten sie gegen einen Bären kämpfen. Aber alle Hunde sind bei den Tests durchgefallen, und die Wissenschaftler setzten sich auf die Gehsteigkante und hielten sich die Köpfe und hatten Angst, dem Minister das Ergebnis mitzuteilen.«
    »Aber Brando hatten sie noch nicht getestet«, sagte der Junge.
    Brando zuckte im Schlaf, als er seinen Namen hörte, schlief aber weiter.
    »Ganz genau«, sagte Kommandant Ga. »Gerade da kam Brando die Straße entlang. Sein Kopf steckte in einem Nachttopf.«
    Hemmungslos gackerte der Junge los, und sogar das Mädchen verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Plötzlich sah Ga einen neuen Sinn in der Geschichte, einen ganz konkreten Nutzen für die morgige Flucht. Wenn er in der Geschichte den Hund nach Amerika gelangen ließ, indem er sich in einer Tonne versteckte, die auf ein amerikanisches Flugzeug verladen wurde, konnte er den Kindern ein paar grundlegende Anweisungen geben – wie sie in die Fässer kämen, wie sie sich mucksmäuschenstill verhalten mussten, wie es wackeln würde und wie lange sie warten müssten, bevor sie um Hilfe riefen.
    »Ein Nachttopf!«, rief der Junge. »Wie ist das denn passiert?«
    »Was glaubst du?«, fragte Ga.
    »Igitt!«, sagte der Junge.
    »Der arme Brando verstand überhaupt nicht, warum aufeinmal das Licht ausgegangen war«, sagte Ga. »Jedes Geräusch hallte als Echo in dem Nachttopf wider. Er lief blind die Straße entlang, rannte überall dagegen, aber die Wissenschaftler dachten, er wäre gekommen, um sich testen zu lassen. Was für ein mutiger Hund, dass er freiwillig gegen einen Bären kämpfen wollte!, dachten die Forscher. Und wie schlau, dass er dafür eine Rüstung angelegt hat!«
    Der Junge und auch das Mädchen brachen in lautes, herzhaftes Gelächter aus. Die Besorgnis war aus ihren Gesichtern verschwunden, und Ga dachte, vielleicht war es am besten, wenn die Geschichte überhaupt keinen Zweck erfüllte, wenn sie einfach nur das wäre, was sie tatsächlich war: spontan und originell mit einem Schluss, der sich ganz von selbst ergab.
    »Die Wissenschaftler umarmten einander vor Begeisterung«, fuhr Ga fort. »Dann gaben sie nach Pjöngjang durch, dass sie den genialsten Hund der Welt entdeckt hätten. Als die amerikanischen Spionagesatelliten diese Meldung abfingen – «
    Der Junge zupfte an Gas Ärmel. Er freute sich noch immer, ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, aber zugleich war er ernst geworden.
    »Ich will dir was sagen«, sagte er.
    »Ja?«, antwortete Ga.
    Aber dann verstummte der Junge und blickte auf seinen Schoß hinab.
    »Na los«, drängte das Mädchen. Als der Junge stumm blieb, sagte sie zu Ga: »Er will dir seinen Namen verraten. Unsere Mutter hat gesagt, das ist in Ordnung, wenn wir es wirklich wollen.«
    Ga schaute den Jungen an. »Ist es das? Willst du mir deinen Namen sagen?«
    Der Junge nickte.
    »Und du?«, fragte Ga das Mädchen.
    Auch sie schlug die Augen nieder. »Ich glaube schon«, sagte sie.
    »Das müsst ihr aber nicht«, sagte Ga. »Namen kommen und gehen. Namen ändern sich. Ich zum Beispiel habe nicht einmal einen.«
    »Wirklich nicht?«, fragte das Mädchen.
    »Na ja, ich schätze, ich habe schon einen, aber ich kenne ihn nicht. Sollte meine Mutter ihn mir auf

Weitere Kostenlose Bücher