Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
das ihn tragen würde.
»Was sagen Sie ihnen?«, fragte er. »Wenn Sie ihnen diese Kleider über den Kopf ziehen – kennen sie die Wahrheit, wissen sie, dass sie gerade das Ende proben?«
Ihre Augen ruhten einen Moment auf ihm. »Ich würde meinen Kindern niemals ihre Zukunft rauben«, antwortete sie. »Das wäre das Allerletzte, was ich wollte. Als ich so alt war wie Yun, gab es sonntags im Mansu-Park Eis umsonst. Meine Eltern gingen immer mit mir dorthin. Heute ist der Eismann ein Kinderhäscher und verschleppt die Kinder ins Waisenlager. Über so etwas sollten Kinder überhaupt nicht nachdenken müssen. Damit sich meine Töchter vom Eiswagen fernhalten, behaupte ich immer, dass Pfirsiche der leckerste Nachtisch sind, dass wir die allerletzte Dose in ganz Pjöngjang haben und dass die Familie Buc eines Tages, wenn sie glücklicher nicht sein könnte, diese Pfirsiche verspeisen wird, die besser schmecken als alles Eis in Korea.«
*
Brando hob den Kopf, als Ga das Schlafzimmer betrat. Die Kinder hatten dem Hund das Cape abgenommen. Sie saßen mit besorgten Gesichtern auf dem Fußboden. Ga hockte sich neben sie.
Über ihnen, auf dem Sims, stand die Pfirsichdose, die er morgen mitnehmen würde. Wie um alles in der Welt konnte er ihnen sagen, was er zu sagen hatte? Er beschloss, einfach tief Luft zu holen und anzufangen.
»Manchmal tun Leute anderen Leuten weh«, sagte er. »Das ist nicht schön, aber so ist es.«
Die Kinder starrten ihn an.
»Manche Menschen tun anderen weh, weil es zu ihrem Beruf gehört. Niemand macht das zum Vergnügen. Na ja, die meisten jedenfalls nicht. In der Geschichte, die ich euch erzählen möchte, geht es darum, was passiert, wenn zwei solche Menschen – Männer, die anderen weh tun – aufeinandertreffen.«
»Meinst du Taekwondo?«, fragte der Junge.
Irgendwie musste Ga ihnen erklären, wie es dazu gekommen war, dass er ihren Vater umgebracht hatte, so scheußlich das auch war. Wenn sie nach Amerika flogen und immer noch an die Lüge glaubten, ihr Vater sei am Leben, wenn er selbst dann noch haushoch wie ein Propagandaplakat über ihnen aufragte, dann würden sich die Kinder auch so an ihn erinnern. Er würde sich in eine Bronzestatue verwandeln und mitdem tatsächlichen Menschen kaum mehr Ähnlichkeit haben. Ohne die Wahrheit wäre er einfach ein weiterer berühmter Name, eingemeißelte Schriftzeichen auf dem Sockel einer Statue. Hier bot sich den Kindern die seltene Gelegenheit zu erfahren, wer ihr Vater wirklich gewesen war – eine Gelegenheit, die Ga nie gehabt hatte. Und mit ihrem Haus war es nicht anders: Solange sie von den heimlichen DVDs, dem Inhalt des Laptops, dem Ursprung der blauen Blitze in der Nacht nichts erfuhren, würde sich das Haus auf dem Taesong wie ein hübsch gemaltes Bild in ihrer Erinnerung festsetzen, ein perfektes Postkartenidyll. Und wenn sie Gas wahre Rolle in ihrem Leben nicht kannten, würde er selbst in ihrer Erinnerung zu einem Gast verblassen, der aus unerfindlichen Gründen ein Weilchen bei ihnen gewohnt hatte.
Aber er wollte ihnen nicht weh tun. Und er wollte nicht gegen Sun Moons Wünsche verstoßen. Vor allem aber wollte er die Kinder nicht gefährden, wollte nicht, dass sie sich morgen auffällig verhielten. Wie gerne hätte er ihnen erst später die Wahrheit erzählt! Was er brauchte, war eine Flaschenpost, die sie erst in einigen Jahren öffnen würden.
Das Mädchen meldete sich zu Wort. »Weißt du jetzt, wo unsere Mutter ist?«, fragte sie.
»Eure Mutter ist beim Geliebten Führer«, erklärte er. »Da ist sie mit Sicherheit gut aufgehoben, und bald ist sie wieder da.«
»Vielleicht besprechen sie einen Film«, sagte das Mädchen.
»Vielleicht«, antwortete Ga.
»Ich hoffe nicht«, sagte der Junge. »Wenn sie einen neuen Film macht, müssen wir wieder in die Schule.«
»Ich will aber in die Schule!«, sagte das Mädchen. »Ich hatte lauter Einsen in Sozialtheorie. Willst du Kim Jong Ils Rede vom 15. April Juche 86 hören?«
»Wenn eure Mutter ins Filmstudio fährt, wer passt dann auf euch auf?«, fragte Ga.
»Einer von Vaters Lakaien«, sagte das Mädchen. »Nichts gegen dich ...«
»Euer Vater«, sagte Ga. »Das ist das erste Mal, dass ihr ihn erwähnt.«
»Er ist auf einer seiner Missionen«, erklärte das Mädchen.
»Die sind geheim«, ergänzte der Junge. »Er geht oft weg.«
Nach kurzem Schweigen meldete sich das Mädchen wieder zu Wort. »Du hast gesagt, du willst uns eine Geschichte erzählen.«
Kommandant Ga
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