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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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das Haus nach Informationen – worüber oder wozu wusste er selbst nicht. Er kontrollierte jede Flasche in Kommandant Gas Reisweinkeller. Er stieg auf einen Stuhl und begutachtete im Kerzenschein die Pistolen, die kreuz und quer oben im Küchenschrank lagen. Unten im Tunnel ließ er seinen Blick über die DVDs schweifen – er suchte einen Film, der ihm in dieser Situation helfen könnte, aber solche Filme schienen die Amerikaner nicht zu machen. Er betrachtete die Bilder auf den DVD-Hüllen und las sich die Beschreibungen durch – aber wo war der Film, der keinen Anfang, einen unerbittlich langen Mittelteil und ein Ende nach dem anderen hatte? Vom vielen Englischlesen taten ihm die Augen weh, und dann fing er auch noch an, auf Englisch zu denken, und das ließ ihn an den nächsten Tag denken, und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde er von großer Angst erfüllt. Englische Worte würde in seinem Kopf herumschwirren, bis er Sun Moons Stimme wieder hörte.
    Als ihr Wagen endlich kam, lag er auf dem Rücken im Bett und ließ sich vom schlafenden, gleichmäßigen Atem der Kinder beruhigen. Er hörte zu, wie Sun Moon im Dunkeln hereinkam und sich in der Küche ein Glas Wasser schöpfte. Als sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete, tastete er nach der Streichholzschachtel und riss eines an.
    »Nicht«, sagte sie.
    Furcht überkam ihn, dass sie irgendwelche Verletzungen hätte, dass sie etwas verbergen wollte, was man ihr angetan hatte.
    »Fehlt dir etwas?«
    »Nein, alles in Ordnung«, sagte sie.
    Er hörte, wie sie sich bettfertig machte. In der völligen Dunkelheit sah er sie vor seinem inneren Auge – wie sie ihre Kleider auszog und über die Stuhllehne hängte, wie sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte, während sie in das Nachthemd stieg, das sie zum Schlafen trug. In der Finsternis spürte er, wie sie die Kindergesichter streichelte, um sicherzugehen, dass sie tief und wohlbehalten schliefen.
    Als sie unter die Bettdecke gekrochen war, zündete er die Kerze an, und da lag sie: Sun Moon, vom goldenen Licht beschienen.
    »Wohin hat er dich gebracht?«, fragte er. »Was hat er mit dir angestellt?«
    Er suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, was sie durchlebt haben mochte.
    »Er hat mir nichts getan«, sagte sie. » Er hat mir nur einen kleinen Einblick in die Zukunft gegeben.«
    Ga sah die drei Chosŏnots an der Wand – rot, weiß und blau.
    »Gehören die auch dazu?«, fragte er.
    »Das sind die Kostüme, die ich morgen tragen soll. Damit werde ich aussehen wie eine Fremdenführerin im Museum für die Befreiung des siegreichen Vaterlandes, oder?«
    »Du darfst nicht dein eigenes, silbernes Kleid tragen?
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Dann wirst du bei deiner Abreise wie das Revuemädchen aussehen, das er immer aus dir machen wollte. Ich weiß, dassdu dir deinen Abschied anders vorgestellt hast. Aber das Wichtigste ist doch, dass du hier rauskommst. Du hast es dir doch nicht anders überlegt? Du willst immer noch weg, richtig?«
    » Wir wollen immer noch weg, richtig?«, erwiderte sie. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas. Sie blickte hoch zu dem leeren Sims. »Wo sind die Pfirsiche?«
    Er zögerte. »Ich habe die Dose vom Balkon geschmissen. Wir brauchen sie nicht mehr.«
    Sie starrte ihn an.
    »Was ist, wenn jemand sie findet und isst?«, fragte sie.
    »Ich habe die Dose aufgemacht und ausgeschüttet«, antwortete er.
    Sun Moon sah ihm forschend ins Gesicht. »Lügst du mich an?«
    »Natürlich nicht.«
    »Kann ich dir immer noch vertrauen?«
    »Ich habe sie weggeworfen, weil wir diesen Weg nicht gehen werden«, sagte er. »Wir wählen einen anderen. Einen, der zu einem Leben wie in dem amerikanischen Film führt.«
    Sie drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke an.
    »Was ist mit dir?«, fragte er. »Warum sagst du mir nicht, was er mit dir gemacht hat?«
    Sie zog das Laken höher und hielt den Stoff fest.
    »Hat er dich angefasst?«
    »Es gibt Sachen auf der Welt ...«, antwortete sie. »Was soll man dazu groß sagen?«
    Ga wartete ab, ob sie das näher ausführen würde, aber das tat sie nicht.
    Nach einer Weile seufzte sie auf.
    »Es ist an der Zeit, dass ich mich dir ganz öffnen sollte«, sagte sie. »Es gibt viele Dinge, die der Geliebte Führer übermich weiß. Wenn wir sicher im Flugzeug sitzen, dann erzähle ich dir meine Geschichte, wenn du das möchtest. Heute Nacht erzähle ich dir das, was er nicht weiß.«
    Sie spitzte die Lippen und blies die Kerze aus.
    »Der Geliebte

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