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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Führer ahnt nicht, dass mein Mann und Kommandant Park sich gegen ihn verschworen hatten. Der Geliebte Führer weiß nicht, dass ich das ständige Karaoke mit ihm fürchterlich finde, dass ich noch nie im Leben zum Spaß gesungen habe. Er hat keinen blassen Schimmer, dass seine Frau mir früher immer Briefchen geschickt hat – sie drückte sein Siegel auf die Umschläge, damit ich sie aufmache, aber das habe ich nie getan. Er ahnt nicht einmal, dass ich meine Ohren einfach auf Durchzug stelle, wenn er mir seine abscheulichen Geheimnisse gesteht. Und ich würde ihm nie verraten, wie sehr ich dich dafür gehasst habe, dass du mich gezwungen hast, eine Blume zu essen – obwohl ich mir geschworen hatte, nie wieder wie eine Verhungernde zu essen.«
    Ga wollte die Kerze wieder anzünden, um zu sehen, ob sie zornig oder verängstigt war. »Wenn ich geahnt hätte –«
    »Unterbrich mich nicht!«, herrschte sie ihn an. »Wenn du dazwischenredest, kann ich diese Sachen nicht sagen. Also. Er weiß nicht, dass der Gegenstand, der meiner Mutter am meisten bedeutete, eine Zither mit Stahlsaiten war. Siebzehn Saiten hatte sie, und in ihrem schwarzen Lack konnte man sich wie im Spiegel sehen. In der Nacht, bevor meine kleine Schwester starb, nebelte mein Vater unser Zimmer mit dem Dampf kochender Kräuter ein, und meine Mutter spielte unentwegt Sanjo -Musik, die grimmig die Finsternis erfüllte, während der Schweiß an ihr herabströmte und die Metallsaiten aufblitzten. Ihre Musik war eine Kampfansage an das Licht, das ihr am nächsten Morgen die Tochter stehlen würde. Der Geliebte Führer weiß nicht, dass ich nachts die Handnach meiner kleinen Schwester ausstrecke. Jedes Mal wache ich davon auf, dass ich sie nicht finde. Niemals würde ich ihm verraten, dass mir diese Zithertöne nicht aus dem Kopf wollen.
    Der Geliebte Führer kennt meine Herkunft, die groben Fakten. Er weiß, dass meine Großmutter als Trostfrau nach Japan gebracht wurde. Aber er könnte nie verstehen, was sie alles erlitten hat, warum sie nach Hause kam und nur Lieder der Verzweiflung kannte. Weil sie über die Jahre in Japan nicht sprechen durfte, war es wichtig, dass ihre Töchter diese Lieder lernten. Allerdings ohne die Texte – nach dem Krieg wurde man schon allein dafür umgebracht, dass man Japanisch konnte. Doch die Melodien gab sie weiter, und sie brachte meiner Mutter bei, wie man diese Melodien auch ohne Worte sprechen ließ. Das hatte sie in Japan gelernt – wie allein der Anschlag einer Saite schon alles sagt, wie man in einem Akkord bewahren kann, was der Krieg verschlungen hat. Der Geliebte Führer merkt überhaupt nicht, dass es diese Fähigkeit ist, die er an mir so schätzt.«
    Sie fuhr fort: »Er weiß nicht, dass ich damals, als er mich zum ersten Mal hörte, für meine Mutter sang, damit sie in dem anderen Viehwaggon nicht verzweifelte. Zu Hunderten waren wir mit dem Zug in ein Umerziehungslager unterwegs, und jedem Einzelnen tropfte frisches Blut von den Ohren. Meine ältere Schwester war wegen ihrer Schönheit nach Pjöngjang verfrachtet worden. Danach hatten wir alle gemeinsam beschlossen, dass mein Vater meine kleine Schwester außer Landes schmuggeln sollte. Dieser Versuch schlug fehl, meine Schwester starb, mein Vater war zum Republikflüchtling abgestempelt worden, und wir, meine Mutter und ich, waren jetzt die Angehörigen eines Republikflüchtlings. Die Fahrt mit dem Zug dauerte ewig, er fuhr so langsam, dassoben auf den Viehwaggons Krähen landeten, zwischen den Belüftungsschlitzen hin und her hüpften und auf uns herabstarrten, als seien wir Insekten, die sie verspeisen wollten. Meine Mutter war in einem anderen Waggon als ich. Rufen war nicht erlaubt, aber Singen schon. Ich sang ›Arirang‹, damit sie wusste, dass es mir gut ging. Sie sang zurück, damit ich wusste, dass sie bei mir war.
    Unser Zug fuhr auf ein Nebengleis, um einen anderen Zug vorbeizulassen. Wie sich herausstellte, war es der kugelsichere Zug des Geliebten Führers. Der hielt an, damit die beiden Zugführer den Zustand der Gleise besprechen konnten. Gerüchte wurden von einem Viehwaggon in den nächsten geflüstert, alle waren voller Panik. Die Stimmen wurden lauter, die Leute fragten sich, was gerade mit den Leuten in den anderen Waggons geschah, ob Einzelne ausgesondert werden sollten, und deswegen sang ich, sang, so laut ich konnte, und hoffte, meine Mutter würde mich trotz des Aufruhrs und der Panik noch hören.
    Mit einem Mal ging die Tür

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