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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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    Aus dem Dunkel sagte Kommandant Ga: »Gestrichen.«
    »Ja, gestrichen«, wiederholte Sun Moon. »Wie oft habe ich an dieses andere Mädchen gedacht? Wie kann der Geliebte Führer ahnen, dass ich ihretwegen immer noch Gänsehaut bekomme?«
    »Was ist aus ihr geworden?«, wollte Ga wissen.
    »Du weißt genau, was aus ihr geworden ist«, erwiderte sie.
    Beide schwiegen eine Weile.
    »Und es gibt noch etwas, was der Geliebte Führer nicht über mich weiß«, sagte sie. »Aber er wird es sehr bald herausfinden.«
    »Und was ist das?«
    »Ich werde eine neue Version des Liedes meiner Großmutter schreiben. In Amerika werde ich den fehlenden Text finden, und das Lied, das wird von ihm handeln. In dem Lied wird alles über dieses Land enthalten sein, was ich nie aussprechen durfte, alles, bis zum Letzten, und das singe ich dann im staatlichen Rundfunk der Amerikaner. Und dann weiß die ganze Welt darüber Bescheid, wer er in Wirklichkeit ist.«
    »Der Rest der Welt weiß darüber Bescheid, wer er in Wirklichkeit ist«, erwiderte Ga.
    »Nein, sie werden es erst wirklich wissen, wenn sie es in meiner Stimme hören. Ich dachte, ich würde dieses Lied nie singen dürfen.« Sun Moon riss ein Streichholz an. In seinem Aufflackern sagte sie: »Und dann kamst du. Der Geliebte Führer hat keine Ahnung, dass ich durch und durch Schauspielerin bin – nicht nur, wenn ich seine Zeilen spreche, sondern in jeder Sekunde meines Lebens. Auch dir habe ich mich bisher nur als Schauspielerin gezeigt. Aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich muss zwar ständig eine Rolle spielen – doch in meinem tiefsten Innern bin ich einfach nur eine Frau.«
    Er blies das Streichholz aus, fasste sie am Arm und zog sie an sich. Diesmal wehrte sie ihn nicht ab. Ihr Gesicht war dem seinen ganz nah, und er konnte ihren Atem spüren.
    Sie streckte die Hand nach seinem Hemd aus.
    »Zeig es mir«, sagte sie.
    »Aber es ist dunkel. Du kannst doch gar nichts sehen.«
    »Ich will es spüren«, antwortete sie.
    Er zog das Hemd über den Kopf und beugte sich ihr entgegen, sodass sie seine Tätowierung berühren konnte.
    Sie fuhr seine Muskeln nach und legte die Hand auf seinen Rippenbogen.
    »Vielleicht sollte ich mir auch so was machen lassen«, sagte sie.
    »Was, eine Tätowierung?«, fragte er. »Was für eine Tätowierung hättest du denn gern?«
    »Was würdest du vorschlagen?«
    »Kommt drauf an. Wohin soll sie denn kommen?«
    Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf, nahm seine Hand, führte sie zu ihrem Herzen und legte ihre Hände darüber. »Was hältst du von dieser Stelle?«
    Er spürte ihre zarte Haut, ihren Brustansatz. Doch am stärksten spürte er unter seinem Handteller die Hitze ihres Bluts, das von ihrem Herzen durch den Körper gepumpt wurde, durch ihre Arme bis in die Hände, die auf seinem Handrücken lagen, sodass es ein Gefühl war, als würde er völlig von ihr umschlungen.
    »Da ist die Antwort einfach. Übers Herz tätowiert man ein Inbild dessen, was man in seinem Herzen trägt.«
    Er beugte sich über sie und küsste sie. Der Kuss war lang und unvergleichlich, und als sich ihre Lippen öffneten, schlossen sich seine Augen.
    Danach schwieg sie, und er bekam Angst, denn er wusste nicht, was sie dachte.
    »Sun Moon, bist du noch da?«
    »Hier bin ich«, antwortete sie. »Mir ist gerade ein Lied durch den Kopf gegangen.«
    »Ein gutes oder ein schlimmes?«
    »Es gibt nur eine Art.«
    »Stimmt das wirklich, dass du noch nie zum Spaß gesungen hast?
    »Was für ein Lied sollte ich denn schon singen? Eins übers Blutvergießen? Oder wie herrlich es ist, sich als Märtyrer zu opfern, oder die anderen schönen Lügen?«, fragte sie zurück.
    »Gibt es denn gar nichts anderes? Ein Liebeslied vielleicht?«
    »Na, dann nenn mir doch eins, in dem es nicht um die Liebe zum Geliebten Führer geht.«
    »Ich kenne ein Lied«, antwortete er.
    »Wie geht das?«
    »Ich kenne nur den Anfang. Ich habe es in Amerika gehört.«
    »Verrat es mir.«
    »She’s the yellow rose of Texas«, sagte er.
    »She’s the yellow rose of Texas« , sang sie.
    Die englischen Worte wollten ihr nur schwer von der Zunge, aber die Melodie und ihre Stimme – das klang wunderschön. Zart legte er einen Finger an ihre Lippen, um zu spüren, wie sie die Worte sang.
    »I’m going for to see.«
    »I’m going for to see.«
    »When I finally find her, I’ll have her marry me.«
    »Was bedeutet das?«
    »Es handelt von einer Frau, die so schön ist wie eine seltene Blume. Und von

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