Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
meine Mutter panisch. »Was machst du da?«
Mein Vater war außer sich.
»Was ist, wenn die Amerikaner uns überfallen? Wie sollen wir jetzt davor gewarnt werden?«, schrie er hysterisch.
»Ihr braucht keine Angst mehr vor Überraschungsangriffen zu haben«, beruhigte ich sie.
Mein Vater wollte protestieren, aber ein Speichelstrom floss ihm aus dem Mund. Er betastete seine Lippen, als seien sie gefühllos geworden. Meine Mutter hatte in einer Hand einen Tremor, den sie mit der anderen Hand zu dämpfen versuchte. Das tödliche Gift breitete sich in ihnen aus. Die Zeit für Verdächtigungen und Auseinandersetzungen war vorbei.
Ich dachte an das schreckliche Bild der Familie Buc, die zusammengekrümmt unter dem Esstisch lag. Dieses entwürdigende Ende wollte ich meinen Eltern ersparen. Ich goß beiden ein großes Glas Wasser ein und legte sie auf ihre Klappbetten, damit sie dort den Einbruch der Nacht erwarten konnten. Den ganzen Nachmittag lang und bis in die Dämmerung hinein schenkte ich ihnen meine Lebensgeschichte, jedes kleine Detail, nichts ließ ich aus. Beim Sprechen schaute ich aus dem Fenster und beendete meine Erzählung erst, als sie angefangen hatten, sich in den Betten zu winden. Bis es dunkel war, konnte ich nichts unternehmen, und als die Dunkelheit dann endlich da war, lag die Stadt Pjöngjang unter mir wie das schwarze Heimchen im Märchen – sie war überall und nirgendwo zugleich, und ihr Zirpen ärgerte nur die, die nicht schlafen wollten. Schimmernd spiegelte sich der Mond im Fluss, und nachdem die Uhus zugeschlagen hatten, war von den Schafen und Ziegen über uns nichts mehr zu hören als das Malmen ihrer Zähne, während sie im Dunkeln wiederkäuten. Als die Finsternis vollkommen war und meine Eltern nicht länger ihrer Sinne Herr waren, küsste ich sie zum Abschied. Ich konnte es nicht ertragen, das Unvermeidliche mit anzusehen. Ich blickte mich ein letztes Mal im Zimmer um – unser Familienfoto, die Mundharmonika meines Vaters, ihre Eheringe. Doch ich ließ alles zurück. Dort, wohin ich ging, konnte ich nichts mitnehmen.
*
Die beschwerliche Reise konnte Kommandant Ga unmöglich mit einer offenen Wunde antreten. Auf dem Schwarzmarkttauschte ich meine Pubjok-Marke gegen Jod und eine große Kompresse ein. Beim Durchqueren der Stadt auf dem Weg zur Abteilung 42 spürte ich, wie die gewaltige Maschinerie der Stadt zum Stillstand gekommen war. Kein Strom sirrte in den Oberleitungen, kein Wasser gurgelte in den Rohren. Ganz Pjöngjang hatte sich in der Dunkelheit zusammengekauert, um den nächsten Tag mit Macht angehen zu können. Und wie ich es liebte, wenn unsere Hauptstadt zum Leben erwachte, der Rauch der Kochfeuer in der Luft, der Duft röstender Rettiche, der Geruch heißer Straßenbahnbremsen. Ich war ein echtes Stadtkind. Ich würde den Trubel, die Energie der Metropole vermissen. Wäre hier doch Platz für einen Menschen, der die Geschichten der Menschen sammelt und aufschreibt. Aber von Nachrufschreibern wimmelte es bereits in Pjöngjang. Und Propaganda finde ich unerträglich. Dabei sollte man eigentlich annehmen, dass man sich mit der Zeit an grausige Schicksale gewöhnt.
Als ich zu Kommandant Ga in die Zelle trat, fragte er: »Ist schon Morgen?«
»Noch nicht. Wir haben noch Zeit«, versicherte ich ihm.
Ich versuchte, Kommandant Ga zu verarzten, so gut ich konnte. Vom Jod verfärbten sich meine Finger rotbraun – man hätte meinen sollen, dass ich den Mann vor mir so brutal zugerichtet hatte. Doch als die Kompresse aufgelegt war, war die Wunde nicht mehr zu sehen. Ich brauchte die ganze Rolle Klebeband auf.
»Ich hau ab von hier«, verkündete ich. »Wollen Sie mitkommen?«
Er nickte.
»Wollen Sie wissen, wohin wir gehen, oder welche Hindernisse uns erwarten?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sind Sie so weit? Müssen Sie sich denn noch irgendwie vorbereiten?«
»Nein, ich bin so weit«, sagte er.
Ich half ihm auf und trug ihn huckepack quer durch die Abteilung 42 in ein Verhörzimmer, wo ich ihn auf einem himmelblauen Stuhl absetzte.
»Hier haben Sie mir ein Aspirin gegeben, am Anfang, als ich eingeliefert wurde«, sagte er. »Das scheint eine ganze Ewigkeit her zu sein.«
»So schlimm wird die Reise gar nicht«, versicherte ich ihm. »Und auf der anderen Seite gibt es keine Pubjok, keine Elektroschocker und keine Brandeisen. Wenn Sie Glück haben, werden Sie einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zugeteilt. Das ist zwar hart, aber man kann eine
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