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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Angst vor mir haben, weil sie mein wahres Ich nicht kennen.«
    »Aber dein Freund. Der hat doch die Menschen getötet, die er liebt, richtig?«
    »Ja, das ist schlimm, ich weiß«, antwortete ich. »Es ist unverzeihlich, das weiß er selbst. Aber lasst mich mit meiner Autobiografie anfangen. Ich kam in Pjöngjang zur Welt, meine Eltern waren Fabrikarbeiter. Beide waren nicht mehr jung, aber sie waren gute Eltern. Sie überstanden alle Betriebssäuberungen und entgingen der Denunzierung und Umerziehung.«
    »Aber das wissen wir doch schon alles«, unterbrach mich mein Vater.
    »Psst. Einem Buch kann man nicht widersprechen. Eine Biografie lässt sich nicht beim Lesen umschreiben. Also zurück zu meiner Geschichte.« Während sie die restlichen Pfirsiche aufaßen, erzählte ich ihnen, wie normal meine Kindheit gewesen war, dass ich in der Schule Ziehharmonika und Blockflöte gespielt hatte und im Chor bei Aufführungen von Unser Plansoll hebt uns hinan den hohen Alt sang. Ich konnte sämtliche Reden Kim Il Sungs auswendig und hatte Bestnoten in Juche-Theorie. Dann ging ich langsam zu den Dingen über, die sie nicht wussten. »Eines Tages kam ein Parteivertreter an unsere Schule. Er testete alle Jungen auf ihre Parteitreue, einen nach dem anderen, im Geräteschuppen. Der Test selbst dauerte nur wenige Minuten, aber er war ziemlich schwierig. Dass ist wohl Sinn und Zweck eines Tests. Ich kann zum Glück von mir sagen, dass ich den Test bestand, wir alle, aber keiner von uns wollte je darüber reden.«
    Es war unheimlich befreiend, dieses Thema endlich anzusprechen, das ich niemals zu Papier bringen könnte. Ich wusste auf einmal, dass ich ihnen einfach alles erzählen würde undwir uns so nah sein würden wie noch nie – ich würde von den Demütigungen sprechen, die ich beim Wehrdienst über mich ergehen lassen musste, über meinen einzigen sexuellen Kontakt mit einer Frau, von den grausamen Aufnahmeritualen, die ich als Praktikant bei den Pubjok mitgemacht hatte.
    »Ich will mich nicht zu lange bei diesem Loyalitätstest aufhalten, aber meine Sicht auf die Welt veränderte er doch. Hinter einer ordensgeschmückten Brust kann sich ein Held verbergen oder aber ein Mann mit einem begierigen Zeigefinger. Ich entwickelte mich zu einem misstrauischen Jungen, der stets den Verdacht hatte, dass sich etwas anderes unter der Oberfläche versteckte, wenn man nur nachbohrte. Vielleicht schlug ich deswegen diese berufliche Laufbahn ein. Meine Arbeit hat mir gezeigt, dass es die rechtschaffenen, aufopferungswilligen Bürger gar nicht gibt, die wir angeblich alle sind. Versteht mich bitte nicht falsch. Ich will mich nicht beklagen – ich will nur erklären. Mir ist es viel besser ergangen als vielen anderen. Ich bin nicht im Waisenhaus aufgewachsen wie mein Freund, Kommandant Ga.«
    »Kommandant Ga?«, entsetzte sich mein Vater. »Ist das dein neuer Freund?«
    Ich nickte.
    »Antworte mir«, befahl mein Vater. »Ist Kommandant Ga dein neuer Freund?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Aber Kommandant Ga darf man nicht trauen«, rief meine Mutter. »Er ist ein Feigling, ein Krimineller.«
    »Genau, ein Hochstapler«, fügte mein Vater hinzu.
    »Ihr kennt Kommandant Ga doch gar nicht«, widersprach ich. »Habt ihr etwa meine Akten gelesen?«
    »Wir brauchen keine Akten zu lesen«, entgegnete mein Vater. »Wir haben das aus allerzuverlässigster Quelle. Kommandant Ga ist ein Staatsfeind.«
    »Ganz zu schweigen von seinem hinterhältigen Kumpan, Genosse Buc«, fügte meine Mutter hinzu.
    »Sag den Namen nicht!«, warnte mein Vater sie.
    »Woher wisst ihr das alles?«, fragte ich. »Ich will alles über diese Quelle wissen.«
    Beide zeigten auf den Lautsprecher.
    »Jeden Tag erzählen sie seine Geschichte weiter. Die Geschichte von ihm und Sun Moon«, erklärte meine Mutter.
    »Genau. Gestern kam die fünfte Folge. Kommandant Ga fährt mit Sun Moon zum Opernhaus, aber es ist gar nicht der richtige Kommandant Ga, verstehst ...«
    »Aufhören«, sagte ich. »Das ist unmöglich. Ich habe kaum Fortschritte mit seiner Biografie gemacht. Sie hat noch nicht mal einen Schluss.«
    »Hör’s dir doch selbst an«, sagte meine Mutter. »Der Lautsprecher lügt nicht. Die nächste Folge kommt heute Nachmittag.«
    Ich schob einen Stuhl zur Küchenecke, stieg hinauf und riss den Lautsprecher aus der Wand. Ein Kabel hing noch dran, und er quäkte immer noch. Erst mit einem Hackmesser brachte ich ihn schließlich zum Schweigen.
    »Was geht hier vor sich?«, fragte

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