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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Mund.
    »Mmm«, sagte sie.
    Dann fütterte ich meinen Vater.
    »Das nenne ich einen Pfirsich, mein Sohn«, begeisterte er sich.
    Abgesehen vom Trompeten des Lautsprechers genossen sie den Augenblick in völliger Stille.
    Wie aus einem Mund sagten sie: »Wir danken dir, Geliebter Führer Kim Jong Il.«
    »Genau. Ihm müsst ihr dafür danken«, sagte ich.
    Wieder rührte ich die Büchse gut um und fischte den nächsten Schnitz heraus.
    »Ich habe einen neuen Freund«, verkündete ich.
    »Von der Arbeit?«, fragte mein Vater.
    »Genau, einen Freund von der Arbeit«, antwortete ich. »Ein sehr enger Freund. Wir vertrauen uns. Er hat mir viel von sich erzählt und hat mir neue Hoffnung gegeben, dass die Liebe doch noch auf mich wartet. Er ist ein Mann, der die wahre Liebe kennengelernt hat. Ich habe mir seinen Fall sehr genau angesehen und bin nun sicher, dass der Schlüssel zur Liebe in der Bereitschaft zum Opfer liegt. Er selbst hat für die Frau, die er liebt, das größte Opfer erbracht.«
    »Hat er sein Leben für sie geopfert?«, fragte mein Vater.
    »Nein, eigentlich nicht. Genauer gesagt hat er ihr das Leben genommen«, antwortete ich und steckte ihm einen Pfirsich in den Mund.
    Ein leichtes Zittern lag in der Stimme meiner Mutter. »Wir freuen uns für dich. Wie der Geliebte Führer sagt: Liebe regiert die Welt . Also nur zu. Finde deine große Liebe. Mach dir um uns keine Sorgen. Wir kommen zurecht. Wir können uns selbst versorgen.«
    Ich steckte ihr ein weiteres Stück Pfirsich in den Mund; sie verschluckte sich, weil sie nicht darauf vorbereitet gewesen war.
    Ich erzählte: »Vielleicht habt ihr ja manchmal mitbekommen, wie ich in mein Tagebuch geschrieben habe. Das ist aber im Grunde kein Tagebuch – es ist eine persönliche Biografie. Wie ihr wisst, ist das mein Beruf. Ich verfasse die Biografien unserer Klienten, die dann in eine – man könnte sagen private – Bibliothek kommen. Einer meiner Kollegen, wir nennen ihn Sarge, meint, das Problem mit meinen Biografien wäre, dass kein Mensch sie liest. Und das bringt mich zu meinem neuen Freund. Der sagte mir, dass die einzigen Menschen auf der Welt, die seine Biografie lesen würden, nicht mehr da sind.«
    Ich hielt meiner Mutter wieder den Löffel mit ordentlich viel Saft hin.
    » Menschen «, fragte mein Vater nach. »Damit meint dein Freund doch sicher die Dame seines Herzens.«
    »Genau«, bestätigte ich.
    »Die Frau, die er ermordet hat«, präzisierte Mutter.
    »Genau, und ihre Kinder auch. Ich weiß, die Geschichte hat etwas Tragisches an sich, das lässt sich nicht leugnen«, antwortete ich.
    Ich nickte nachdenklich über diese Weisheit. Das hätte einen guten Titel für seine Biografie abgegeben – Kommandant Ga: Eine Tragödie. Oder wie auch immer er nun wirklich hieß.
    Die Hälfte der Pfirsiche war aufgegessen. Ich rührte in der Büchse und wählte einen weiteren Schnitz aus.
    »Heb doch auch was für dich auf«, sagte mein Vater.
    »Ja, mir reicht’s auch«, bekräftigte meine Mutter. »Ich habe schon so lange nichts Süßes mehr gegessen, mein Magen verkraftet das nicht mehr.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Dies ist eine ganz besondere Büchse Pfirsiche«, sagte ich. »Ich wollte sie eigentlich für mich selbst aufheben, aber der einfache Ausweg ist nicht die richtige Antwort auf die Probleme des Lebens.«
    Die Unterlippe meiner Mutter begann zu beben. Sie hielt die Hand vor den Mund.
    »Aber zurück zu meinem Problem«, sagte ich. »Meine eigene Biografie, und welche Probleme ich damit hatte, sie zu verfassen. Diese Schreibhemmung, die mich so schrecklich blockiert hat, rührte daher, dass ich tief im Innern wusste, dass niemand meine Geschichte hören will – mittlerweile ist mir das klar. Dann gelangte mein Freund zu der Einsicht, dass er seine Tätowierung nicht hatte, damit andere sie sehen können, sondern nur für sich selbst. Sie war zwar für alle Welt sichtbar, aber im Grunde war sie nur für ihn allein bestimmt. Als er sie verlor, verlor er im Grunde eigentlich alles.«
    »Ja, aber wie kann man denn eine Tätowierung verlieren?«, fragte mein Vater verwirrt.
    »Das ist leider einfacher, als man meinen sollte«, antwortete ich. »Na, jedenfalls wurde mir dadurch klar, dass ich nicht für die Nachwelt oder den Geliebten Führer oder für das Wohl des Volkes schreibe. Nein, meine Geschichte ist für die Menschen bestimmt, die ich liebe, die Menschen hier direkt vor mir, die angefangen haben, mich als Fremden zu betrachten, die

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