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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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großgeworden war. Mir wurde speiübel.
    Ich kam sonst nie mitten am Tag nach Hause. Ich nahm die Gelegenheit wahr, zog die Schuhe auf dem Hausflur aus und schob den Schlüssel so leise wie möglich ins Schloss. Beim Öffnen hob ich die Tür leicht an, damit die Türangeln nicht knarrten. Drinnen plärrte der Lautsprecher, und meine Eltern saßen am Tisch, meine Akten vor sich ausgebreitet. Sie flüsterten miteinander, wobei sie die Finger über die Seiten gleiten ließen und die eingeprägten Stempel und Abteilungssiegel befühlten.
    Ich wusste mittlerweile, dass ich keine wichtigen Akten mit nach Hause bringen durfte. Dies waren nur Beschaffungsformulare.
    Ich gab der Tür einen Stoß; knarrend fiel sie ins Schloss.
    Die beiden erstarrten.
    »Wer ist da? Wer sind Sie?«, rief mein Vater.
    »Sind Sie ein Dieb?«, fragte meine Mutter. »Wir haben nichts, glauben Sie mir.«
    Beide blickten mich direkt an, schienen mich aber nicht sehen zu können.
    Ihre Hände suchten und fanden einander auf dem Tisch.
    »Verschwinden Sie«, sagte mein Vater. »Lassen Sie uns in Ruhe, sonst sagen wir es unserem Sohn.«
    Meine Mutter tastete auf dem Tisch herum, bis sie einen Löffel fand, den sie mir wie ein Messer mit dem Stil voran entgegenstreckte. »Ich warne Sie. Wenn unser Sohn das erfährt!«, drohte sie. »Er ist ein Folterexperte.«
    »Mutter! Vater!«, sagte ich. »Habt keine Angst, ich bin es nur.«
    »Aber es ist doch mitten am Tag«, entgegnete mein Vater. »Ist alles in Ordnung?«
    »Alles ist in Ordnung«, beruhigte ich ihn.
    Ich trat an den Tisch und klappte die Akten zu.
    »Du bist ja barfuß«, sagte meine Mutter.
    »Ja.«
    Ich konnte die Male an ihnen sehen. Ich sah, dass sie gebrandmarkt worden waren.
    »Aber ich verstehe nicht«, stotterte mein Vater.
    »Ich muss heute Nacht sehr lang arbeiten«, erklärte ich ihnen. »Und morgen und übermorgen muss ich auch sehr lang arbeiten. Und die nächsten Tage auch. Ich kann nicht mehr nach Hause kommen, um das Abendessen für euch zuzubereiten oder euch zur Etagentoilette zu begleiten.«
    »Mach dir um uns keine Sorgen«, versicherte mir meine Mutter. »Wir kommen schon zurecht. Wenn du gehen musst, dann geh ruhig.«
    »Ja, ich muss gehen«, sagte ich.
    Ich ging zum Küchenschrank und holte einen Büchsenöffner aus der Schublade. Am Fenster blieb ich stehen. Da ich tagsüber unter der Erde arbeitete, war ich die Mittagssonnenicht gewöhnt. Ich betrachtete den Rührlöffel und die Pfanne und die Kochplatte, auf der meine Mutter das Essen zubereitete. Ich starrte auf den Geschirrständer, auf dem zwei Glasschalen im Licht blitzten. Ich entschied mich gegen Schalen.
    »Ich habe den Eindruck, dass ihr Angst vor mir habt«, sagte ich zu ihnen. »Weil ich ein Rätsel für euch bin. Weil ihr mich nicht richtig kennt.«
    Ich hatte angenommen, dass sie protestieren würden, aber sie sagten nichts. Ich langte in das oberste Regal und holte die Büchse mit den Pfirsichen herab. Ich blies auf den Deckel, aber sie hatte noch nicht lange genug dort gestanden, um viel Staub anzusammeln. Ich setzte mich an den Tisch und nahm meiner Mutter den Löffel aus der Hand.
    »Darüber werdet ihr euch jedenfalls nie wieder den Kopf zerbrechen müssen. Heute werdet ihr mich nämlich kennenlernen«, erklärte ich ihnen.
    Ich drückte den Dosenöffner in die Büchse und hebelte sie Stück für Stück auf.
    Mein Vater schnupperte. »Pfirsiche?«, fragte er.
    »Haargenau. Pfirsiche im eigenen, zuckersüßen Saft«, antwortete ich.
    »Vom Schwarzmarkt?«, fragte Mutter.
    »Nein, ich habe sie aus der Effektenkammer mitgehen lassen.«
    Mein Vater sog den Duft tief ein. »Ich kann sie richtig vor mir sehen, wie sie im dicken, goldgelben Sirup schwimmen und im Licht glänzen.«
    »Wie lange habe ich keinen Pfirsich mehr gegessen«, seufzte meine Mutter. »Früher haben wir jeden Monat einen Bezugsschein für eine Dose Pfirsiche bekommen.«
    Mein Vater wiegelte sofort ab: »Ach, das ist doch Ewigkeiten her.«
    »Da hast du wohl recht«, stimmte meine Mutter zu. »Ich wollte auch nur sagen, dass wir früher sehr gern Pfirsiche gegessen haben, und dann gab es eines Tages keine mehr.«
    »Na, dann!«, sagte ich. »Mund auf.«
    Wie Kinder sperrten sie die Mäuler auf. Mein Vater schloss voller Vorfreude seine weißlich trüben Augen.
    Ich rührte die Pfirsiche in der Dose um und suchte eine Scheibe aus. Ich streifte den herabtropfenden Sirup am Dosenrand ab und steckte meiner Mutter den Löffel in den

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