Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
würde, aber mein Geist war hyperpräsent, die Gedanken rasten nur so. Alles war einzigartig – das Gleißen der Metallarmaturen, das grelle Grün eines Fliegenauges. Es gab nur das Ding an sich, ohne Verbindung oder Kontext, als ob alles in meinem Kopf unverbunden nebeneinanderstünde. Blau und Leder und Stuhl, ich konnte sie nicht mehr zusammenbringen. So etwas wie diesen Ozongeruch hatte ich noch nie erlebt, das Weißglühen der Glühbirne war ohne Beispiel. Die Härchen in meiner Nase richteten sich auf. Meine Erektion stand scheußlich und einsam mitten im Raum. Einen eisigen Gipfel oder eine weiße Blume sah ich nicht. Aufder Suche nach ihnen ließ ich den Blick durch den Raum schweifen, sah aber nichts als isolierte Eigenschaften: Glanz, glatt, grob, Schatten.
Meine Aufmerksamkeit wandte sich Kommandant Ga zu, der sich ebenfalls bewegte. Mit den Armen vor mir in der Luft flatternd schaffte ich es, den Kopf so weit herumzurollen, dass ich ihn in den Blick bekam. Er hatte einen Arm aus der Halterung befreit und streckte ihn nach dem Schalter aus. Ich sah, wie er ihn bis zum Anschlag aufdrehte – eine tödliche Dosis. Aber ich konnte mich nicht länger um ihn sorgen. Ich war auf meiner eigenen Reise. Bald würde ich in einem Dorf auf dem grünen, friedlichen Land sein, wo die Bauern still ihre Sensen schwangen. Dort würde eine Witwe auf mich warten, und wir würden keine Zeit auf Brautwerbung verschwenden. Ich würde auf sie zugehen und ihr mitteilen, dass ich ihr neuer Ehemann sei. Anfangs würden wir von entgegengesetzten Seiten ins Bett steigen. Eine Zeitlang würde sie noch Regeln aufstellen. Doch schon bald würden wir auf eine Weise miteinander verkehren, die richtig und befriedigend war. Nach meinem nächtlichen Erguss würden wir daliegen und unseren Kindern zuhören, die im Dunkeln umherrannten und Sommerfrösche fingen. Meine Frau würde auf beiden Augen sehen können und wissen, wann ich die Kerze ausblies. In diesem Dorf würde ich einen Namen haben, bei dem man mich rufen würde. Wenn die Kerze verlosch, würde sie zu mir sprechen und mir sagen, dass ich ganz, ganz tief schlafen solle, und während der Strom durch meinen Kopf zuckte, lauschte ich auf ihre Stimme, die einen Namen rief, der bald der meine sein würde.
AM MORGEN wurde Kommandant Ga vom Motorengedröhn eines amerikanischen Transportflugzeugs geweckt. Die Kinder waren schon wach und starrten zur Decke hoch. Sie wussten genau, dass das nicht der wöchentliche Flug nach Peking war oder der Pistenhüpfer, der zweimal im Monat Wladiwostok anflog. Der Luftraum über Pjöngjang war geschützt, die Kinder hatten im Grunde noch nie Flugzeuggeräusche über der Stadt gehört. Seit den Napalmangriffen der amerikanischen Bomber im Jahr 1951 war kein Flugzeug mehr über der Landeshauptstadt zu sehen gewesen.
Ga weckte Sun Moon, und sie lagen nebeneinander und hörten zu, wie der Jet in nördlicher Richtung flog, als sei er aus Seoul gekommen – aus einer Richtung, aus der nichts kommen durfte. Ga sah auf die Uhr: Die Amerikaner waren drei Stunden zu früh. Der Geliebte Führer würde vor Zorn kochen.
»Sie fliegen extra niedrig, um sich anzukündigen«, sagte er. »Sehr amerikanisch.«
Sun Moon sah ihn an. »Es ist also so weit.«
Er suchte in ihren Augen nach Spuren des Liebesakts der letzten Nacht. Aber sie blickte nach vorn, nicht zurück.
»Es ist so weit«, bestätigte er.
»Kinder!«, rief Sun Moon. »Wir machen heute einen Ausflug. Ein echtes Abenteuer! Packt etwas zu essen für uns ein.« Als sie weg waren, zog sie den Hausmantel über und steckte sich am Fenster eine Zigarette an. Sie beobachtete, wie der amerikanische Goliath über dem Taedong das Fahrwerk ausklappte und sich im Tiefflug dem Flughafen näherte. Siedrehte sich zu Ga um. »Eins musst du verstehen. Ich bin etwas Besonderes für den Geliebten Führer. Er hat viele Mädchen, eine ganze Freudenbrigade, aber nur ich bedeute ihm etwas. Er ist davon überzeugt, dass ich ihm alles offenbare, dass sich alle Emotionen auf meinem Gesicht abzeichnen, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, und ich deswegen nie gegen ihn konspirieren könnte. Er glaubt, ich sei der einzige Mensch auf der Welt, dem er trauen kann.«
»Dann wird ihm das heute einen herben Schlag versetzen.«
»Ich rede nicht von ihm«, erwiderte sie. »Es geht hier um dich. Du musst verstehen, dass irgendjemand einen unvorstellbar hohen Preis dafür zahlen wird, wenn ich mich dem Zugriff des Geliebten Führers
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